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Ach, du deutscher Bohnentopf!

 

Heinrich Bölls 100. Geburstag feiern? Natürlich. Aber muss deshalb gleich wieder gejammert werden, dass Schriftsteller heute nicht mehr engagiert sind? So ein Unsinn.

© dpa

Welch deutsches Thema! Immer wieder hört man davon, „Engagement, politische Einmischung, Relevanz der Literatur“. Man hört es fordernd oder nostalgisch oder beides, aufs Beste miteinander verquickt. Ach, die Literatur! Ihr Niedergang! Insbesondere der Niedergang ihrer Autoren. Nicht engagiert, nicht interessiert, nicht politisch. Wie anders das war, als die großen Alten noch agierten: Böll, Grass, und ein bisschen auch Walser.

Der männliche, gealterte, weiße literarische Meinungsmacher verschwindet. Ich gestehe, dass mein Bedauern darüber sich in überschaubaren Grenzen hält. Allemal, da an dem Geklage in der Sache nichts ist. Und dort, wo es einen Punkt trifft, trifft es ihn wie das berühmte blinde Huhn, zufällig. Dass es sich bei der eingeklagten Art literarischer Relevanz um einen rückwärtsgewandten Mythos verbunden mit einem strukturellen Wandel handelt (der interessant ist), versteht das Klagen nicht.

Mühelos lässt sich auf zahlreiche Äußerungen zeitgenössischer Autoren aus verschiedensten Generationen zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Prozessen verweisen. Ich nenne nur Namen wie Ulrich Peltzer, Kathrin Röggla, Norbert Niemann, Thomas Lehr, Franzobel, die Menasse-Geschwister, Juli Zeh, die sich sowohl in literarischen wie außerliterarischen Werken zum Teil seit Jahrzehnten, in kontinuierlicher Arbeit, an politischen Debatten beteiligen. Die Liste ließe sich ausdehnen. Sie ist prominent besetzt.

Die von Böll oder Grass einst ausgelösten Skandale bleiben aus. Doch warum sollten sie auch eintreten? Welch seltsame Vorstellung von der Funktion von Literatur spiegelt sich in dieser Erwartung? Die Forderung, Literatur möge als weises, gar superweises Korrektiv der Politik und gegebenenfalls als „Gewissen der Nation“ fungieren, scheint mir ein rechtes Relikt der fünfziger Jahre. Der der Bundesrepublik nachhängenden Nachkriegszeit. Welch seltsames Verständnis von Demokratie spiegelt sich darin? Welche Sehnsucht nach dem starken Mann?

Höchste Zeit, noch einmal – auch praktisch – über Luhmanns Gedanken zur Funktionslosigkeit der Kunst als deren gesellschaftssystemischer Funktion nachzudenken.

Und sie umzusetzen.

Oder einfacher bzw. anders gesagt: Nehmen wir Böll und sehen uns die Relevanz seiner Literatur einmal an.

Bölls Licht ist stark verblasst. Der 100. Geburtstag steht an, da legt man ein paar Scheite ins Feuer, erinnert sich. Doch was zeigt sich?

Das Times Literary Supplement durchschaute das Phänomen früh. Offensichtlich half es, von außerhalb des deutschen Topfes aus, in dem der Nachkrieg suppte, zuzusehen. Das TLS konstatierte: ein ehrenhafter Mann. Als Schriftsteller nicht bemerkenswert.

Böll war Zeitgenosse, Beobachter, Aussprecher. Mutig, einer der kommentierte, auch half. Mahner und öffentliche Figur. Eines war nicht: exzellenter Schriftsteller. Er war einer, der versuchte, Literatur zu schreiben.

Auch das ist ehrenwert. Nichtexzellente Literatur hat, der Fall beweist es, ihre Funktionen. Aber sie wird bzw. bleibt historisch. Böll war Dokumentarist, Zeuge. Der versuchte, hie und da das literarische Gewand zu nutzen, um auf etwas zu zeigen. Oder, wie im Fall seines Pamphletes (so Böll selbst) Die verlorene Ehre der Katharina Blum, um sich selbst zu verteidigen.

Am 10.01.1972 hatte Böll im Spiegel für Baader und Meinhof Gnade oder freies Geleit gefordert. Das wurde als Unterstützung der RAF interpretiert. Tatsächlich dachte Böll laut nach über den Rechtsstaat und dessen Prinzipien. Die beispielsweise Vorabverurteilungen ausschlossen. Er sorgte sich über die Entwicklung medialer Macht, wenn nicht Gewalt, verstrickte sich in unklarer Argumentation, wurde von einigen sachlich korrigiert, gestand Fehler ein. Der Großteil der Kritik allerdings fiel anders aus: Springer gegen Spiegel. Ein Medienkrieg, der in unserer medialen Landschaft seinerseits extrem historisch erscheint. Böll sah sich als Person diffamiert und an den Pranger gestellt. Shitstorm, sagte man heute. Die Gefühle kann man sich vorstellen. Oder besser, hoffentlich, nicht.

Böll, der redliche Katholik aus Köln, als junger Mann an die Fronten des Zweiten Weltkrieges geschickt, geprägt von Sprachlosigkeit (seine Kriegstagebücher zeigen sie), Böll wusste, wovor er sich fürchtete.

Das war ein großes Gut.

Gegen die Angriffe aus dem Umfeld Springer wehrte er sich mit einem Stück Literatur. Bericht, Erzählung, Pamphlet Blum. Der Untertitel: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Das Buch mäandert, der Erzähler versteckt sich, wird mehr und mehr zu Böll selbst, der sich eine Opfer-Frau erfindet und ihr, um „ihren“ Springerskandal zu entfachen, eine Sex- statt einer Politgeschichte anhängt. Wie schade. Wie eng gedacht. Man spürt die Beleidigung des Autors im Text, sieht das enge Raster seines Denkens (Frauen wird Politik nicht zugestanden) und kann nicht umhin zu bemerken, wie dieses Stück „engagierter Literatur“ dank seines Vorabdrucks im Spiegel zu einem (willfährigen?) Teil des Medienkampfes Springer-Spiegel gemacht wird.

Einfluss? Meinungsführerschaft? Literarische Relevanz?

Schon sieht es dunkel aus. Hinzukommt, dass das Literarische selbst dabei auf der Strecke bleibt. Ungeschickte, hölzerne Sprache. Böll köchelt im eigenen Saft. Eine persönlich politische Schlacht, literarisch nur verbrämt. Direkt ausgetragen wäre mir all dies lieber; es wäre auch effektiver. Stattdessen wird Literatur missbraucht, um Politik in Kleinbürgerwelten zu beugen und „Lebensweisheit“ auf Stammtischniveau zu versprühen.

Engagement? Relevanz?

Seit 1972 ist mit dem Attentat während der Olympischen Spiele in München internationaler, medial bewusst agierender Terror auch in Deutschland präsent. Man befindet sich in einer Spirale der Eskalation. Böll indes spinnt seinen Skandal um eine Unschuld vom Lande, Haushaltshilfe, ehrlich und treu, einer Liebesnacht wegen medial zermalmt. Der wirkliche Schrecken, das, was sich nicht fassen lässt, auch wenn man seine Schatten sehr wohl sieht – Bölls eigener Artikel von 1972 benennt sie bereits – wird abgebogen in ein Räuberpistölchen aus der Welt der älteren Männer, die jüngeren Frauen an die Wäsche gehen.

Seit 1972 wird Fernsehen in Farbe ausgestrahlt. Drei Kanäle, einige Zeitungen. Jeder Stimme, die ertönt, kommt strukturell ein vollkommen anderer Resonanzraum zu als heute. Wirkt es heute, als „engagierten“ Schriftsteller sich nicht, so liegt das zum einen daran, dass die Entstehung von Meinungsführerschaft sich grundsätzlich verändert hat. Zum anderen ist man als Autor gut beraten, darüber nachzudenken, wie und auf welche Weise man sich funktionalisieren lassen möchte.

Böll scheint damit keinerlei Problem gehabt zu haben. Er wusste, wo gut und böse sitzen, oder wollte jemand sein, der das weiß.

Eben daran aber zerbricht die Literatur. Sie ist kein Organ der Antworten, sondern eines der Fragen. Eben hier kann sie ihre Funktion der Funktionslosigkeit wahrnehmen: blinde Flecken zeigen. Sie ist ein Organ der Vielfalt, Vielstimmigkeit, der Widersprüche. Autoren sind nicht weise und sollten nicht in dieser Funktion installiert werden. So ist es gut, das oben eingeklagte „Engagement“ endlich zu entfernen. Ich drücke delete. Lösche ein Missverständnis.

Höre ich Klagen?

Ach, deutscher Bohnentopf!

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