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Eine lupenreine Miniperestroika

 

Belarus lockert die Verstaatlichung und öffnet sich der globalen Wirtschaft. Die Liberalisierung gilt aber ausschließlich für die IT-Branche. Ist das schon Revolution?

© [M] Dan Kitwood/Getty Images
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Belarus, bis vor Kurzem noch der am stärksten isolierte Staat Osteuropas, hat sich mit einer radikalen Liberalisierung seiner Gesetzgebung für die globale IT-Wirtschaft geöffnet. Allerdings nur in diesem einen Bereich.

Ende Dezember überraschte der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko mit einem für ihn sehr untypischen Schritt: Er unterschrieb das Dekret „Über die Entwicklung der digitalen Wirtschaft“, das in einem Land, in dem immer noch die auf Allbelarussischen Nationalversammlungen verabschiedeten Fünfjahrespläne gelten und die Wirtschaft an jährlich verlautbarten „Prognosen zur sozioökonomischen Entwicklung“ ausgerichtet ist, eine ganze Reihe ultraliberaler Freiheiten verhieß.

Sogar sprachlich war dieses Papier außergewöhnlich in seiner Kombination aus Sowjet-Volapük und Lexik aus einem futuristisch anmutenden Film über die elektronische Zukunft der Menschheit. Dem Dekret zufolge fällt das mining von tokens in Belarus künftig nicht mehr unter „unternehmerische Tätigkeit“, tokens sind nicht mehr meldepflichtig, die „Operatoren von Kryptoplattformen“ sind berechtigt, nach Belieben Konten im Ausland zu eröffnen (für Belarus ein Riesenzugeständnis), Residenten des Hightechparks (HTP) werden von Gewinn- und Mehrwertsteuer befreit.

Auf HTP-Liegenschaften wird für drei Jahre keine Grundsteuer erhoben, für IT-Beschäftigte gilt ein reduzierter Einkommenssteuersatz von 9 statt 13 Prozent. Und damit nicht genug – die von den HTP-Residenten erwirtschafteten Devisen müssen nicht wieder veräußert werden.

Im Hightechpark beschäftigte Ausländer benötigen keine Arbeitserlaubnis, außerdem sind sie befugt, sich 180 Tage pro Jahr in der Republik Belarus aufzuhalten!

Natürlich könnte sich ein potenzieller Venture-Investor angesichts der hier verheißenen Steuerbefreiungen nicht nur dankbar, sondern auch verwundert darüber zeigen, wie viele Steuerarten und Vorschriften es bislang in Belarus gegeben hat. Aber das ist sicher nicht das vorrangige Anliegen dieses Dekrets.

Die Launen Russlands

Es will vor allem demonstrieren, dass Belarus nicht mehr das Land der „manuell gesteuerten“ Wirtschaft ist, in dem vor jedem Investment erst einmal ein ganzer Packen Papiere beigebracht werden muss. De facto handelt es sich um eine lupenreine Perestroika inklusive Entstaatlichung und Entbürokratisierung. Allerdings mit einem Unterschied: Die Liberalisierungsmaßnahmen betreffen nur eine einzige Branche.

Da stellt sich die zentrale Frage, ob sich ein kleiner Teil des Systems liberalisieren lässt, während ansonsten jegliche Privatinitiative weiterhin staatlich bevormundet bleibt.

Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man sich die wahren Beweggründe für die nun lancierte IT-Revolution in Belarus vor Augen führt. Sie gehen nach meinem Verständnis auf die Krise des alten Wirtschaftsmodells zurück, das auf der Weiterverarbeitung billigen russischen Erdöls und Erdgases basierte. Als Russland Quoten für Öllieferungen einführte und den Gaspreis anhob, musste das „belarussische Wirtschaftswunder“, das der Bevölkerung im staatlichen Fernsehen pausenlos gepredigt wurde, einen ersten schweren Schlag hinnehmen. Nun, da die Beziehungen zu Putin sich wieder einigermaßen normalisiert haben, steht das Bruttoinlandsprodukt dank der wiederaufgenommenen Öllieferungen besser da, allerdings wird das beständige Gefühl der Abhängigkeit von Moskau nicht mehr nur als ökonomisch, sondern auch als politisch gefährlich wahrgenommen. Jahrelang hat die Regierung der Bevölkerung eingetrichtert, eine konkurrenzfähige Industrieproduktion und der Verkauf von Traktoren, Lkw und Textilien nach Asien und Lateinamerika garantieren sichere Löhne. Daran glaubt heute wohl nicht einmal mehr die Propagandamaschinerie, allzu trostlos ist die Lage der nicht privatisierten „Industriegiganten“. Die Wirtschaft braucht einen neuen Wachstumsbeschleuniger, ein lokales Wunder, das nicht den Launen Russlands unterworfen ist. Offenbar glaubt die Regierung, dass eine global ausgerichtete IT-Industrie dieses Wunder bewirken kann. Gegenwärtig entfallen auf diesen Sektor nur 30.000 Beschäftigte – nicht eben viel für ein 9-Millionen-Land.

Kurzfristig soll das Dekret den Anteil auf 100.000 steigern und jährlich 3 Milliarden US-Dollar durch den Verkauf von Softwarepaketen ins Land spülen.

Eigentlich alles prima: Die Regierung hat sich einfallen lassen, ein europäisches Seoul zu kreieren. Nur wirkt rund um dieses Seoul, dieses Reservat des freien Marktes, das alte System fort.

Der zarte Hauch von Besorgnis

Die Justiz zum Beispiel. Auf den ersten Blick hat sie nichts mit den Liberalisierungen des Dekrets „Über die Entwicklung der digitalen Wirtschaft“ zu schaffen. Sobald aber die erste Unstimmigkeit auftritt, der erste kritische Einwurf von staatlicher Seite, müssen dieselben Gerichte ran, über deren Urteile internationale Menschenrechtsorganisationen Interessantes zu berichten wissen. Das Dekret gibt ein Quasiversprechen ab, dass nichts vor Gericht landen wird, dass die IT-Unternehmer in einer Blase der Glückseligkeit schwimmen dürfen, die weder Justiz noch Kontrolleure kennt (die in Belarus eine eigene, starke soziale Schicht darstellen). Aber der zarte Hauch der Besorgnis ist trotzdem zu spüren, nicht wahr?

Wenn ich mir die großartigen Normen des Dekrets „Über die Entwicklung der digitalen Wirtschaft“ noch einmal zu Gemüte führe, kommt mir unweigerlich die NEP in den Sinn. Die Neue Ökonomische Politik, 1921 in Sowjetrussland verabschiedet, liberalisierte ebenfalls die Spielregeln, schaffte die Enteignungen und Sollabgaben des Kriegskommunismus ab und brachte sogar eine Klasse sowjetischer Unternehmer hervor, die NEP-Männer. Als sie für ein kurzfristiges Wirtschaftswachstum gesorgt hatte, ging sie mit der Verstaatlichung privater Aktiva und der Auslöschung der NEP-Männer als Klasse zu Ende. Der NEP sei Dank, wussten die Kommissare 1927 genau, wo sie Durchsuchungen vorzunehmen hatten.

Die NEP war eine Geschichte ohne Happy End. Eine Geschichte darüber, wie ein kleiner, frei gelassener Teil innerhalb eines Systems der Unfreiheit von der herrschenden Logik des Unionsstaates geschluckt wurde. Ich versuche trotzdem, Optimist zu bleiben. Es gibt ja auch andere Beispiele: die Öffnungs- und Reformpolitik in China, die Modernisierung Singapurs unter Lee Kuan Yew, die punktuellen Liberalisierungsmaßnahmen in Myanmar, die das Land vollständig umgekrempelt haben. Ich möchte glauben, dass Belarus, ermutigt durch die Erfolge der Carte Blanche für die IT-Industrie, die Freiheiten auch auf andere Branchen ausweitet. Dann wird es eines Tages auch zu echten politischen Reformen kommen.

 

Aus dem Russischen von Thomas Weiler

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