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Aus spanisch-katalanischen Parallelwelten

 

© Josep Lago/AFP/Getty Images

Wie man ein politisches Vakuum nutzt: Während Rajoys Regierung katalanische Musiker verhaften lässt, verfasst die Schnulzenkönigin Marta Sánchez eine neue spanische Hymne. Nationalsymbole sind jetzt Grundschulstoff.

Der Freitext-Autor Michael Ebmeyer hat diesen Artikel zusammen verfasst mit Gemma Terés Arilla, geboren 1982 in Granollers, Provinz Barcelona. Sie hat jahrelang als Deutschlandkorrespondentin für Catalunya Ràdio gearbeitet und war Pressesprecherin der nun geschlossenen katalanischen Vertretung in Berlin.

 

Katalonien, da war doch was.
Ein Referendum für die Abspaltung von Spanien, vom Staat verboten und von prügelnden Polizisten gestört.
Eine einseitige Unabhängigkeitserklärung des katalanischen Parlaments.
Verhaftung diverser katalanischer Politiker und Aktivisten durch die spanische Justiz. Flucht des Ministerpräsidenten Carles Puigdemont nach Brüssel.
Aktivierung des Verfassungsartikels 155, der Katalonien unter Zwangsverwaltung stellt.
Von Madrid verordnete Neuwahlen zum katalanischen Parlament, bei denen aber wieder das unwahrscheinliche Bündnis der Independentistes – Liberal-Konservative, Linksnationalisten und Linksradikale – die Sitzmehrheit erlangte.

Diese Ereignisse aus dem letzten Jahresdrittel 2017 brachten einen Konflikt, der für viele Katalanen seit Jahrzehnten einen wesentlichen Lebensinhalt bildet, endlich international zur Kenntnis. Plötzlich wussten alle, was Katalonien ist, dass es dort eine sehr starke Unabhängigkeitsbewegung gibt und dass ein gutmütig und leicht verschroben auftretender ehemaliger Journalist mit Jogi-Löw-Frisur in Spanien von einem Tag auf den anderen zum Staatsfeind Nr. 1 werden kann.

Dann aber geschah nicht mehr viel. Jedenfalls nichts, was im deutschsprachigen Raum große Schlagzeilen gemacht hätte. Knapp drei Monate nach den vorgezogenen Wahlen ist noch keine neue Regierung gebildet. Nicht ungewöhnlich, in Deutschland hat es ja soeben fast ein halbes Jahr gedauert.

Und nun sollte es auch in Katalonien so weit sein. Für Montag, 12. März, war das Plenum einberufen, um einen neuen Regierungschef zu wählen. Puigdemont selbst kandidierte „vorläufig“ nicht. Ihm droht die Festnahme, sobald er spanisches Staatsgebiet betritt. Zugleich hat ihm das Verfassungsgericht untersagt, sich in Abwesenheit, also von seinem Brüsseler Exil aus, wählen zu lassen. Deshalb rückte die Nummer zwei auf der Wahlliste des Bündnisses JuntsXCat nach, Jordi Sànchez.

Der allerdings sitzt bereits seit Oktober in Madrid in Untersuchungshaft. „Aufwiegelung“ und „Rebellion“ werden ihm zur Last gelegt. Als Kopf der Aktivistengruppe Assemblea Nacional de Catalunya war Sànchez hauptverantwortlich für die Organisation des Unabhängigkeitsreferendums. Der spanischen Regierung gilt er als Krimineller. Ministerpräsident Mariano Rajoy droht, solange das katalanische Parlament Kandidaten mit „juristischen Problemen“ aufstelle, bleibe der Zwangsverwaltungsartikel 155 in Kraft.

Der Oberste Gerichtshof Spaniens hat Jordi Sànchez‘ Gesuch abgewiesen, für den 12. März das Gefängnis verlassen zu dürfen. Wieder verstreicht ein Stichtag, ohne dass eine Lösung der sogenannten Katalonienkrise nähergerückt erscheint. Sànchez versucht, seinen Fall nun vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zu bringen – und die Sitzung zur Wahl des Ministerpräsidenten ist auf unbestimmte Zeit verschoben.

Bizarre Vorgänge auf beiden Seiten

Die Fronten bleiben starr, denn katalanische Independentistes und Anhänger des spanischen Zentralismus haben sich in Parallelwelten verkapselt. In der einen Welt gibt es verfassungstreue spanische Staatsbürger und eine ihnen verpflichtete Regierung Rajoy, die mit der gebotenen Härte gegen gesetzlose Separatisten vorgeht und auf eine Stärkung der Staatsmacht in den Regionen setzt. In der anderen Welt kämpfen aufrechte katalanische Politiker mit friedlichen Mitteln dafür, den demokratisch bekundeten Willen ihrer Bevölkerung umzusetzen und Katalonien aus dem Würgegriff eines spanischen Regimes zu befreien, das in die Reflexe der Franco-Diktatur zurückfällt.

Auch in den vergangenen Wochen, als Katalonien aus den meisten internationalen Medien wieder verschwunden war, trugen sich in diesen beiden Parallelwelten bizarre Dinge zu. So beschränkten sich die Verhaftungen aus politischen Gründen nicht auf Independentistes. Auch Hip-Hopper sind betroffen. Wegen „Majestätsbeleidigung“, „Anstachelung zum Hass“ und „Verherrlichung des Terrorismus“ in seinen Rap-Texten wurde der 24-jährige Valtònyc aus Mallorca im Februar zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Er ist somit seit dem Ende der Diktatur in Spanien der erste Musiker, der für seine Lieder ins Gefängnis muss; darauf weist die Journalistin Virginia Pérez Alonso hin, Vorsitzende des Netzwerks Plataforma en Defensa de la Libertad de Información (Forum zur Verteidigung der Informationsfreiheit).

Der erste, aber nicht der einzige: Wenige Tage nach dem Urteil gegen Valtònyc verhängte der Sondergerichtshof Audiencia Nacional gegen den 29-jährigen Pablo Hasél aus Lleida und den 22-jährigen Elgio aus Sabadell Haftstrafen von jeweils zwei Jahren und einem Tag wegen „majestätsbeleidigender“ und „terrorverherrlichender“ Raps und Tweets. Die juristische Grundlage für diesen Feldzug gegen die Kunstfreiheit bildet eine Strafrechtsreform, die Rajoys Partei PP im Alleingang anschieben konnte, als sie in Spanien noch mit absoluter Mehrheit regierte. Die drei Rapper im Knast machen nur den Anfang, eine Menge weiterer Urteile steht aus.

Indessen haben die Hüter der Monarchie und der spanischen Einheit auch ihre musikalischen Freuden. Ebenfalls im Februar gab die Schnulzensängerin Marta Sánchez eine von ihr geschriebene Textfassung der spanischen Nationalhymne zum Besten. Die Hymne ist ein Instrumentalstück. Abhilfe schuf Martísima durch Zeilen wie „Rot, Gelb – Farben, die in meinem Herzen leuchten, und ich bitte nicht um Entschuldigung“ oder „Großes Spanien, ich danke Gott, hier geboren zu sein“.

Rajoy persönlich twitterte entzückt: „In überwältigender Mehrheit fühlen wir Spanier uns verstanden. Danke, Marta.“ Und Albert Rivera, Parteichef der rechtsliberalen Ciudadanos, pries die Zeilen mit den Farben im Herzen, für die die Sängerin nicht um Entschuldigung bittet, als „mutig und bewegend“. Der ungläubige Lachkrampf, der gleichzeitig das gesamte intellektuelle Spanien befiel, ging in dem Getöse fast unter.

Und so erfüllte sich die Regierung Rajoy Anfang März auch noch den lang gehegten Traum, die Unterrichtseinheit „Streitkräfte und Nationalsymbole“ in die Grundschullehrpläne aufzunehmen. Kostprobe: Die Kinder sollen La Banderita schmettern, den alten Marsch der Marokko-Soldaten, dabei eine spanische Flagge zusammensetzen und am Ende um sie herum strammstehen. Auf diese Weise wird man der notorischen Flaggenseligkeit des katalanischen Independentisme ja wohl endlich etwas Grandioses entgegensetzen können. Randbemerkung: Seit Jahrzehnten werfen spanische Zentralisten der katalanischen Politik vor, sie indoktriniere die Jugend. Und zwar, weil an den Schulen Kataloniens standardmäßig in katalanischer Sprache unterrichtet wird.

Doch schauen wir kurz auch noch in die andere der beiden Parallelwelten: Katalonien, das kein eigener Staat sein darf und von Madrid gegängelt wird. Wenn all das so furchtbar ist, warum stellen die Independentistes dann fürs Ministerpräsidentenamt nicht einfach eine Kandidatin auf, die keine „juristischen Probleme“ hat, und werden damit wenigstens die Zwangsverwaltung wieder los?

Nur die Linksnationalisten appellieren an die Vernunft

Weil ihnen ihr gekränkter Stolz noch wichtiger ist als ihre viel beschworene Freiheit. Das gilt vor allem für Puigdemonts Wahlbündnis JuntsXCat: Gerade der bürgerlich-gediegene Teil des Independentisme flüchtet sich angesichts des gescheiterten Abspaltungsversuchs in kindischen Trotz: „Jetzt auch noch ein Kandidat, der Madrid genehm ist? Niemals!“ Die kleine linksradikale CUP hält sich derweil an die Maxime: „Schrei nur lange genug, es gibt Einhörner, dann kommt irgendwann eins angetrabt“, und tut so, als sei die katalanische Republik bereits Realität.

Allein von der ERC, den Linksnationalisten, kommen einzelne Appelle an die politische Vernunft: Man solle angesichts der Umstände besser erst einmal die Basis erweitern und die Kooperation auch mit Rajoy-Gegnerinnen jenseits des eigenen Lagers suchen: mit den Comuns dem katalanischen Podemos-Ableger um Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau – und zur Not auch mit den Sozialdemokraten.

Die Arbeit an solchen Allianzen wäre in jedem Fall dringend angeraten, denn die Independentistes erzielen zwar knappe Sitzmehrheiten, haben damit aber immer noch rund die Hälfte der katalanischen Bevölkerung nicht hinter sich. Doch sobald jemand auch nur zaghaft darauf hinweist, bricht der Entrüstungsdonner der Radikalisierten los. Pragmatismus ist nicht gefragt, lieber berauscht man sich am eigenen verletzten Dünkel, der in Raserei umschlägt.

Und je länger diese Farce andauert, desto schwieriger lässt sich der Verdacht von der Hand weisen, dass zumindest die katalanischen Amtsträger sich mit Artikel 155 ganz bequem eingerichtet haben.

De facto wird Katalonien von Madrid aus verwaltet, kommissarische Regierungschefin ist die stellvertretende spanische Ministerpräsidentin mit dem Bilderbuchnamen Soraya Sáenz de Santamaría. Doch für die meisten Funktionäre hat sich nicht allzu viel verschlechtert. Die großen Projekte liegen auf Eis, aber sie haben weiter ihren Job und bekommen weiter ihr Gehalt. Ein kommoder Rahmen für unversöhnliche Töne.

Insgesamt setzt die spanische Regierung den Artikel 155 auf eher milde Weise um und verzichtet vorerst darauf, die Heiligtümer der katalanischen Autonomie zu zerstören. Den Schulunterricht auf Katalanisch hat sie bisher nicht angetastet. Die öffentlichen katalanischsprachigen Medien (Catalunya Ràdio und der Fernsehsender TV3, dazu die Nachrichtenagentur ACN) sind in arge finanzielle Bedrängnis gebracht, aber noch auf Sendung.

Allerdings wurden sogleich nach Aktivierung des Zwangsartikels die Auslandsvertretungen geschlossen, die die katalanische Regierung in den vergangenen Jahren eingerichtet hatte. Auf diese Weise stellt Madrid sicher, dass dem Mantra „Uns geht es nur um die Wahrung der verfassungsmäßigen Legalität“ nicht im größeren Stil lästige Alternativdeutungen entgegengesetzt werden können. Die internationale Presse, kurzzeitig misstrauisch geworden nach der Polizeigewalt beim katalanischen Referendum, lässt sich wieder, wie gewohnt, mit den Briefings aus dem Moncloa-Palast abspeisen.

Das Regierungsvakuum in Katalonien kommt Rajoy und seiner spanischen Regierung nur zupass. Sie können in der derzeitigen Situation mit dem Appell an tief sitzende antikatalanische Bauchgefühle ihre Wählerschaft bei der Stange halten. Sie können mit staatstragendem Gerede weiterhin von ihrem legendären Korruptionssumpf ablenken. Sie können im Schatten der Katalonienkrise eine autoritäre Agenda vorantreiben und unbehelligt ihr neues altes Spanien der Soldatenlieder, Schmalzhymnen und politischen Gefangenen bauen.

Dass sie dabei auch noch auf die tatkräftige Mithilfe des politischen Independentisme in Katalonien zählen können, ist die ganz bittere Pointe. Ausgerechnet das ach so eigensinnige Katalonien droht – von Madrid aus regiert und mit aufs Symbolische eingedampfter Autonomie – gerade zum Musterbeispiel für die von Rajoy angestrebte Rezentralisierung Spaniens zu werden.