Als ich ankam, sprach ich kein Wort Deutsch. Aber in der Schule gehörte ich dazu. Werteunterricht für Flüchtlingskinder, wie die Union vorschlägt, würde das verhindern.
Die Farbe, die ich mir gemerkt habe, war bunt. Alles schien bunt, die Schulranzen glänzten, die T-Shirts der anderen Kinder, die Brotdosen, die sie – wir sprechen hier von Schwaben – Vesperdosen nannten, die Fahrradhelme – wir sprechen hier vom Anfang der Neunzigerjahre – in zwei Farben: Neonpink. Und Neongrün. Ich kam mir farblos vor, obwohl man mich in ein rotes T-Shirt gekleidet hatte, vielleicht lag es an der Farblosigkeit, die ich mitgebracht hatte: Die Erinnerung an den grauen Beton dessen, was ich als Schule und Zuhause kannte, braune Kleider mit schwarzen Schürzen, die wir als Schuluniform trugen, tauender, ergrauter Schnee, die Pfützen aus Matsch, in die wir hüpften oder die wir zu umgehen versuchten, die Uniformität des Alltags. Ich hatte Russland hinter mir gelassen, wobei das Hinter-mir-Lassen ein passives Verhältnis war: Man hatte mir gesagt, dass wir ausreisen würden; man hatte Deutschland gesagt; man hatte mich in den Nachtzug gesteckt, den nach Berlin, und später in diese Schule; man hatte auch gesagt, wir müssten den Hund zu Hause lassen, und dass das für Freunde und Verwandtschaft galt, da kam ich selbst drauf.
Der Schulhof, der deutsche, also bunt. Ich wackelte ins Klassenzimmer hinein, der Lehrer sprach Schwäbisch. Es hätte auch Hochdeutsch sein können, Chinesisch. Sachkundeunterricht hätte Deutsch sein können und Heimatkunde auch eine Märchenstunde (von mir aus auch Werteunterricht), ich verstand nichts. Ich lief den anderen hinterher, deren Namen alle gleich klangen, alles klang gleich oder flimmerte zu sehr, ich lernte die Sprache in Worten: Heft. Pause. Dann kam lange Zeit nichts, und später kam „meinetwegen“, ein Wort, um dessen Bedeutung – war es ein Ja?, ein Nein?, ein Vielleicht? – nicht wusste, aber dessen Klang ich genoss: So ein langes Wort (das ich aussprechen konnte!), um etwas zu bejahen oder eben zu verneinen, ein schönes, deutsches Wort.
Das Gefühl, nicht falsch zu sein
Meine Mutter, bei der ich mich – das fällt mir erst jetzt beim Schreiben auf – nie dafür bedankt habe, hatte mit der Schulleitung gestritten und dafür gekämpft, dass ich sogleich in eine normale Klasse komme, dieses elfjährige Kind, das zurückgestuft und aufgrund nicht vorhandener Deutschkenntnisse in die Grundschule geschickt wurde anstatt in das, was man damals, politisch unkorrekt, wie man aus heutiger Sicht noch war, „Ausländerklasse“ nannte. Ich verstand nichts, auch nicht, warum meine russischen Freunde, mit denen ich morgens das Asylantenwohnheim, in dem wir alle lebten, verließ, alle in eine Klasse gehen durften, das Privileg hatten, nebeneinandersitzen und über russische Witze lachen zu dürfen, warum man nur von mir verlangte zu verstehen, was evangelischer und was katholischer Religionsunterricht war, wo ich doch Religion aus der glaubensfreien Sowjetunion gar nicht kannte.
Ich sagte nichts, weil meine Eltern sich auch vorsichtig umblickten, sobald wir das Wohnheimgelände verließen, weil ich ihnen zusehen musste, wie sie um Selbstwertgefühl und gegen Zweifel und Ängste kämpften, weil wir alle etwas verloren hatten, vielleicht in erster Linie ein Stück Würde oder uns selbst. Später, als die deutschen Worte sich zu kurzen Sätzen zusammenstellen ließen und ich bereits wusste, was eine Leggings war, schien es peinlich, wenn mich die russischen Freunde auf dem Pausenhof suchten; ich dachte fälschlicherweise, dass ich etwas Besseres war, weil ich in eine normale Klasse durfte, weil ich mit deutschen Kindern zu spielen versuchte, von denen ich noch nicht verstand, dass sie zum Teil aus Italien, der Türkei oder den ehemals jugoslawischen Staaten kamen, vielleicht konnte ich auch noch nicht in Worte fassen, was das eigentliche Gefühl war: Die Hoffnung, wieder irgendwo hinzugehören. Nicht mehr falsch zu sein, man sagt Gemeinschaftsgefühl dazu, oder – verbrauchterweise – Integration.
Ich weiß nicht, vielleicht – das fällt mir erst jetzt beim Schreiben auf – ist dieses fehlende – vermeintliche – Privileg, das ich nicht genoss, die Sicherheit, neben meinen russischen Freunden zu sitzen, ein Grund dafür, warum ich nun hier in vielen Worten, die ich in Sätze anordne, die beim Anordnen mir und meinen Regeln gehorchen, aufschreiben darf, warum ich es für eine solch lebensfremde, abstruse, menschenfeindliche und auch jedem gemeinschaftlichen Zukunftsgedanken widersprechende Idee finde, geflüchtete Kinder in einen Werteunterricht zu stecken, bevor sie eine normale Klasse besuchen dürfen; „normal“ als plötzlicher Ausdruck von wünschenswerter Angleichung.
Der Vorschlag der Unionsparteien, geflüchtete Kinder erst einmal in einen Sprach- und Werteunterricht zu stecken, untergräbt bereits wichtige, in unserem Grundgesetz festgehaltene Werte an sich: dass Menschen vor dem Gesetz gleich sind und gleichberechtigt behandelt werden sollen. Mit anderen Worten: Was für einen Grund gibt es, Kinder auszusortieren, ihnen, die noch keine Begründungen begreifen können, vorzuleben, dass sie anders sind? Dass sie nicht dürfen, dass sie noch nicht passen, dass sie erst passend gemacht werden müssen, bevor sie das tun dürfen, was ihr entscheidender Vorteil bei dieser sogenannten Integration gegenüber ihren Eltern ist: einfach nur mit anderen Kindern zu sein. Bälle zu kicken, zu rennen, zu springen, zu spielen, all das zu tun, wozu man keine oder wenige oder Fantasieworte braucht, all das zu tun, was eine Gemeinschaft, gemeinsame Erinnerungen, Interessen schafft.
Was sollen das für Werte sein?
Was macht es mit Kindern – die aufgrund ihrer Flucht nun wahrlich genug Leid und Traumata erlitten haben – wenn ihre erste Erfahrung im neuen Land die der Segregation ist, das Gefühl, anders zu sein, und unter Gleiche gesellt zu werden, um dann gemeinsam anders zu sein? Und dann in einer Sprache, die sie sich erst erobern müssen, Wort für Wort, Ball, dann Fußball, dann Torwart, zu hören, dass genau das falsch ist: dass sie sich unter Gleiche gesellen. Dass sie sich mischen sollen mit den anderen, mit den Kindern, von denen sie getrennt werden in Schulen und Klassen und in den Pausen. Dass sie sich mischen sollen, wenn sie gut genug dafür sind, wenn sie genug gelernt haben, was angeblich die anderen sind. Und was lebt man damit den anderen Kindern vor, die das zweifelhafte Privileg haben, normal zu sein, wenn sie sehen, dass die Kinder, die später ihre Schulkameraden, Freunde, Kollegen, Partner sein sollen, erst einmal aussortiert werden? Wir machen die Andersartigkeit sichtbar, wir machen sie zu einer Krankheit, die ausgelöscht gehört. Wir töten jeden Gedanken des Kennenlernens ab.
Und die Werte, die in diesem Werteunterricht gelehrt werden sollen: Was sollen das für Werte sein? Was sind unsere gemeinsamen Werte, auf die wir uns geeinigt haben sollen, oder müssen wir das nicht haben, weil es da draußen (in der CDU/CSU) Leitwölfe gibt, die sie uns vorschreiben, diese vermaledeite Leitkultur, eine Kultur, die leiten soll, ein Widerspruch in sich. Was sind das für Werte, auf die Herr Söder und ich uns zum Beispiel einigen sollten? Ich weiß nicht, ich glaube, das wäre schwierig, er und ich und so eine Liste. Und wenn mir jetzt Polemik vorgeworfen wird und die ganz großen Worte, Grundrechte und Verfassung und all das?
Als wäre jedes Kind, das die normale – ach, dieses Adjektiv schon wieder, die Ausgeburt von Wertung an sich! – Klasse besuchen darf, auf Meinungs- und Glaubensfreiheit gedrillt worden, als wären sie von Eltern und Kindergärtnerinen und Kindergärtnerinnen und Lehrern und Lehrerinnen zu Fackelträgern der Verfassung erzogen worden. Als bestünde die Kinderwelt nicht aus den Stolpersteinen dieser besagten Werte: Kinder, die andere – aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Anschauung (und sei es zum Thema Eiskönigin, Ninjago oder Fußballverein) – ausgrenzen, Kinder, die lernen müssen, Entscheidungen in demokratischen Prozessen, in einer Gemeinsamkeit zu treffen, die eigene Meinung zu äußern, auch wenn sie anderen widerspricht, diese anderen stehen lassen zu können. Diese großen demokratischen Werte, damit sie keine angelernten Worthülsen bleiben, müssen in einer Gemeinschaft, müssen von allen Kindern – eben unabhängig von Herkunft und Religion – gelernt werden; nicht in abgeschlossenen Klassenräumen mit alter Kreide an Tafeln in Druckbuchstaben, sondern im Ausprobieren eines gemeinsamen Lebens.
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