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Linke Erzählung verzweifelt gesucht

 

Deutschland driftet nach rechts. Salonfähig gewordenes Ressentiment vergiftet die Gesellschaft zunehmend. Wir brauchen dringend ein wirksames Gegenmittel.

Teilnehmer einer AfD-Demonstration und Gegendemonstranten im Mai 2018 in Berlin © Hannibal Hanschke / Reuters

Es ist ein mulmiges Gefühl, und es wird immer mulmiger. Wie die viel beschworene Stimmung im Land sich wandelt. Inzwischen kann jede und jeder davon ein bis mehrere Liedchen aus dem eigenen Leben singen. Wie im Bekanntenkreis auf einmal verächtlich dahergeredet und vor sich hin verleumdet wird. Wie auch Leute, die sich selbst für „links“ halten, Ressentiments der sogenannten neuen Rechten übernehmen.

Die Fernsehredakteurin, die plötzlich ihrem grimmigen Zahnarzt glaubt („Die meisten Flüchtlinge kommen nur hierher, um sich kostenlos das Gebiss sanieren zu lassen“). Die eben noch antiautoritäre Philosophin, die nun ehrfürchtig von Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk spricht, weil diese zwei Strategen bereits im Herbst 2015 ihr großintellektuelles Organ gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung erhoben hätten, als das noch gar nicht en vogue gewesen sei. Oder die Mietergemeinschaft in einem Haus in Berlin-Friedrichshain – lauter nette junge Familien oder gar „Kreative“, die vor Sozialneid hohldrehen, seit in einer Wohnung in der Nachbarschaft eine Flüchtlingsfamilie eingezogen ist („Die kriegen doch ihre Wohnung vom Staat bezahlt! Und ein Auto haben sie obendrein, das muss ihnen auch der Staat geschenkt haben! Und so eine Wohnung steht ja wohl eigentlich unseresgleichen zu und nicht denen!“).

Alle haben solche Töne inzwischen mit eigenen Ohren gehört, wenn sie sie nicht gar selbst von sich geben. Und mir schwirrt immer häufiger der Refrain eines Chansons von Franz Josef Degenhardt aus dem Jahr 1977 durch den Kopf: „… und wie ist das Gefühl, wenn man so langsam, langsam, langsam driftet nach rechts?“

Damals ging es um ehemalige Apo-Mitstreiter, die mittlerweile „sozialliberal“ lächelten. Wildledermantelmann heißt das Lied, denn anscheinend waren diese Menschen seinerzeit Männer und trugen Wildledermäntel.

Dröhnende Propaganda

Heute driftet man genderübergreifend und in diverser Bekleidung von links nach rechts. Und rechts ist auch längst nicht mehr bloß „sozialliberal“, sondern – tja, was eigentlich? Diffus gehässig nach der „Wird man doch wohl noch sagen dürfen“-Masche. Diffus identitär nach der „Die haben doch hier nichts zu suchen“-Masche. Und diffus sozialdarwinistisch nach der „Das steht doch denen nicht zu“-Masche. Da ist so einiges in die dralle „Mitte der Gesellschaft“ eingesickert, wogegen der Wildledermantelmann noch immun gewesen wäre.

„Deutschland schafft sich ab“, so schlug vor acht Jahren ein Bürokrat mit SPD-Parteibuch Alarm. Diese Scheindiagnose ist seither ebenso wenig wahr geworden wie die „Islamisierung des Abendlands“, die andere Rassisten, zumeist ohne SPD-Parteibuch, seit bald vier Jahren rituell herbeizetern. Auch wurde Deutschland weder 2015 noch danach mit Flüchtlingen „geflutet“ (Rüdiger Safranski et cetera), sondern mit menschenverachtenden Metaphern, Verschwörungsgeschwätz und chauvinistischen Parolen. Eine mehr oder weniger offen rechtsextreme Partei macht sich in den Parlamenten breit und sitzt sogar im Bundestag. Ein sozialliberaler Frühpensionär vertreibt sich die Zeit damit, dass er ein unausgegorenes Patriotismus-Plädoyer über den grünen Klee lobt.

Deutschland schafft sich nicht ab, es vergiftet sich nur langsam. Dass sich die dröhnende Propaganda für die Belange der „besorgten Bürger“ (Abschottung, Missgunst, Xenophobie, Demokratieabbau) weit über die alten NPD-Kreise und auch weit über die neueren AfD-Kreise hinaus gesellschaftlich festsetzt, ist inzwischen oft analysiert worden. Soeben stellt der Sozialpsychologe Harald Welzer eine „Konsensverschiebung im öffentlichen Diskurs“ fest, in deren Folge „Ausgrenzungs- und Gewaltfantasien nicht mehr als Abweichung, sondern als mindestens teilgesellschaftlich akzeptabel verstanden werden“.

Erosion der demokratischen Basis

Was wir dagegen tun können? Welzer, als Mitbegründer der Initiative Die Offene Gesellschaft, wünscht sich, dass wir alle „im Job und im Privaten, im Freundeskreis und in der Familie, in der Straßenbahn und in sozialen Netzwerken für Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten eintreten, und für eine Gesellschaft, die beides garantiert“.

Das wünsche ich mir auch. Aber so groß immer wieder die Erleichterung sein mag, wenn Initiativen wie Pulse of Europe oder Anti-AfD-Demos erheblichen Zulauf haben: Allein auf die Zivilgesellschaft können wir uns auf Dauer nicht verlassen – denn sie droht ja gerade zu erodieren.

Wertvolle Grundlagenforschung zu dieser Entwicklung bietet die Langzeitstudie Deutsche Zustände, die unter Leitung des Konfliktforschers Wilhelm Heitmeyer über zehn Jahre – 2002 bis 2011 – der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ in der deutschen Bevölkerung nachging. Im Abschlussband bilanzierte sie ein „entsichertes Jahrzehnt“, geprägt von einer schleichenden „Entsolidarisierung“ der deutschen Gesellschaft und einer „Erosion der demokratischen Basis“.

Wonach klingen diese Befunde? Ich würde sagen, einerseits nach genau den existenziellen und sozialen Verunsicherungen, die für die ängstlich-aggressive, tendenziell paranoide Rhetorik der „neuen Rechten“ den Nährboden bilden. Und andererseits nach Folgeschäden einer als Ersatzreligion gehandelten Ideologie, die im entsicherten Jahrzehnt meist unbefangen Neoliberalismus genannt wurde. Wozu auch die Formulierung aus Deutsche Zustände passt, dass gesellschaftliche Krisen im Land „gewissermaßen privatisiert“ würden. Platt gesagt: Der Staat behelligt „die Märkte“ nicht, und wem das Wirken „der Märkte“ die Beine wegzieht, der sucht die Schuld bitte bei sich selbst. Oder bei denen, die noch schwächer sind als er.

Menschenfeindliches Gedankengut

Heute sagt man kaum noch unbefangen Neoliberalismus. Man sagt überhaupt kaum noch Neoliberalismus, denn es ist wie immer mit Begriffen, die einem eher linken politischen Diskurs anzugehören scheinen – es wird unterstellt, sie seien unsachlich, dogmatisch, einem „nicht mehr zeitgemäßen“ Schwarz-Weiß-Denken verhaftet (zeitgemäß ist anscheinend nur das Schwarz-Weiß-Denken der Rechten). Neoliberal, marktradikal: Solche Zuschreibungen waren vielleicht zu den Hochzeiten von Attac oder gerade noch bei Occupy Wall Street Stand der Debatte. Aber doch nicht mehr 2018.

Warum eigentlich nicht? Hat sich an den ökonomischen und ideologischen Hintergründen etwas Entscheidendes geändert? Nein, oder? Aber indem man halbwegs klare Begriffe für diese Hintergründe vermeidet, kann man auch die durch solche Begriffe erhellten möglichen Zusammenhänge nicht mehr diskutieren. Zum Beispiel den Zusammenhang zwischen der schleichenden gesellschaftlichen Entsolidarisierung und dem schleichenden Gift des „neurechten“ Ressentiments.

Zwar wird gerne über „Abgehängte“ (bösartiges Wort) geschrieben oder über solche, die sich vor dem Abgehängtwerden fürchten und deshalb besonders anfällig für menschenfeindliches Gedankengut seien. Doch das sind dünkelhafte und statistisch unhaltbare Versuche, eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung auf eine marginalisierte Schicht abzuwälzen. Die wenigsten Wutbürger kommen aus dem sogenannten Prekariat.

Reiz der Demontage

Hingegen halte ich es für eine ziemlich belastbare These, dass verächtliche und feindselige Denkmuster deshalb erstarken und zunehmend auch auf traditionell linke Milieus übergreifen, weil die neoliberale Gesellschaftserzählung als „alternativlos“ verinnerlicht worden ist. Zu biestigen Glaubenssätzen wie „Jeder ist sich selbst der Nächste“, „Dein Pech, wenn du arm bist“ oder „Der Staat macht nur Mist“ würden sich vielleicht wenige plakativ bekennen. Doch als weithin unausgesprochene, verfestigte Überzeugungen grundieren sie – samt der Beklemmung und Ohnmachtsgefühle, die sie auslösen – den rechtsdriftenden Zeitgeist.

Was würde helfen? Eine kraftvolle Gegenerzählung. Aber da klafft bloß die große linke Leerstelle. Während die Rechten als vermeintlichen Trost gegen die neoliberale Haltlosigkeit einen Rückfall ins Völkische und eine klassisch-perfide Sündenbock-Konstruktion anbieten („Die Flüchtlinge! Die Muslime!“), schien SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz nicht einmal zu wissen, was er meinte, wenn er von „Gerechtigkeit“ sprach. Und Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine behaupten zwar, eine „linke Sammlungsbewegung“ gründen zu wollen, klimpern dabei aber selbst auf der nationalistischen Klaviatur („Wahrung kultureller Eigenständigkeit“, „Respekt vor Traditionen und Identität“). Ein politisches Narrativ wirklich konträr zum „neurechten“ Schleichgift zu setzen, traut sich offenbar niemand.

Bald 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des von in der Theorie kommunistischen und in der Praxis dogmatisch-autoritären Regimen beherrschten Ostblocks, der unverzüglich zum weltweiten Triumph der im Westen dominanten Ideologie umgedeutet wurde, liegt die große linke Heilserzählung immer noch in Trümmern. Auch vielversprechende Versuche, sie neu aufzustellen („Eine andere Welt ist möglich“), büßten ihren Schwung ein, weil der Reiz der Demontage längerfristig größer war als der Drang zur Konstruktion.

Klassengesellschaft nicht als Naturzustand

Ich glaube, ein Grund dafür liegt darin, dass linkes Denken, wenn es undogmatisch ist, immer den Zweifel in sich trägt. Das ist ja gerade seine große emanzipatorische Qualität: nichts fraglos hinzunehmen, keine menschliche Ordnung für unumstößlich zu halten. Jedoch ist es bisher nicht im großen Stil gelungen, diese Qualität als Stärke herauszustellen. Zum Beispiel robust zu verfechten, dass die Freiheit des Zweifelns dem Zwang zur Gewissheit vorzuziehen sei. Dass Vielfalt nicht das Gegenteil von Identität ist, sondern von Vereinheitlichung. Dass man „besorgte Bürger“ nicht verhätscheln, sondern ihnen zeigen soll, wie unbegründet oder fehlgeleitet ihre Sorgen sind. Dass man, statt verständnisvoll dem Geschwätz von der Abschaffung Deutschlands und vom Untergang des Abendlandes zu lauschen, besser schaut, wie sich die Solidargemeinschaft – und ja, auch der Sozialstaat – kräftigen lässt. Dass die (gerade in der Bundesrepublik so ausgeprägte wie uneingestandene) Klassengesellschaft kein Naturzustand ist und Chancengleichheit keine Phrase für Sonntagsreden, sondern ein Ziel, für das es sich zu kämpfen beziehungsweise Politik zu machen lohnt. Dass in der Tat ein besseres Land, ein besseres Europa und eine bessere Welt möglich sind, wenn wir uns von der neoliberalen Irrlehre lösen und erkunden, wie eine neu und demokratisch fundierte internationale Solidarität aussehen kann.

Eine solche selbstbewusste und undogmatische linke Erzählung ist das Gegengift, das wir heute dringend brauchen. Auch gegen die Windungen der Wildledermantelmann-Wiedergänger, die sich bei den Rechten anbiedern und denen die linken Restbestände im eigenen Denken peinlich zu sein scheinen.

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