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#FreeSentsov

 

Der ukrainische Regisseur Oleh Senzow wurde zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Seit Wochen ist er im Hungerstreik. Der Geschmack der Freiheit ist rar in Russland.

Der ukrainische Regisseur Oleh Senzow © Sergey Pivovarov / Reuters

Essen. Als Kind aß ich viel zu viel, weil ich entdeckt hatte, dass es unglaublich angenehm ist, voll zu sein, man fühlt sich sicher, geschützt, sorglos. Essen hat weniger mit Ernährung und Überleben zu tun, sondern viel mehr mit Beruhigung, es tröstet und entspannt. Sehr oft nach dem üppigen Feiertagsessen hatte ich schreckliche Bauchschmerzen und musste in der Nacht erbrechen, dennoch habe ich es nie bereut, und wenn sich wieder eine Möglichkeit ergab, das schmackhafte Salzige mit dem noch schmackhafteren Süßen, Scharfen, Sauren oder gar Geschmacklosen zusammen in den Hals zu stopfen, tat ich es ohne zu zögern. Essen macht glücklich. Manchmal mehr als Liebe oder Geld. Ich kenne Menschen, die ihr ganzes Vermögen für gutes Essen ausgeben, sie essen wie Könige. Ich kenne auch solche, die ihre Liebe für den Bauch opfern und die dortbleiben, wo es genug zu essen gibt. Liebe vergeht und essen will man jeden Tag, pflegte meine Oma zu sagen. Sie liebte nur das Essen. Sonst liebte sie niemanden.

Als sie sechs war, brach in der Ukraine die von Stalin organisierte Hungersnot aus. Omas Vater, früher ein reicher Bauer, ließ die Tochter vor den Stufen eines Kinderheimes zurück und ging fort, wie er sagte, um Brot zu holen. Das waren seine letzten Worte. Die Tochter wartete mehrere Stunden auf ihn und weigerte sich, das Heim zu betreten, auch wenn die Erzieherinnen sie dazu zwingen wollten. „Mein Vater kommt doch bald“, rief sie hysterisch, „er holt das Brot und kommt.“

Sammeln, sparen, sparsam verteilen

Im Heim aß meine Oma jeden Tag eine Bohnensuppe, in der keine Bohnen mehr zu finden waren, nur Wasser. Dann sammelte sie Zwetschgensteine auf dem Markt, knackte sie und aß den Kern. Dann, als die Zwetschgensteine aus waren, aß sie Pflanzen, meistens Gänsefuß, oder auch Lindenblätter, worüber sie später oft erzählte. Ich fragte, wie schmeckten Lindenblätter? Die Oma antworte: bitter. Und wenn sie keine Pflanzen mehr fand, aß sie nichts.

Menschen um sie herum fielen auf den Straßen um wie Stoffpuppen, ihre Körper waren seltsamerweise nicht abgemagert und dünn, sondern sehr dick und angeschwollen, als hätten sie sich umgekehrt zu Tode gefressen. Niemand räumte die dicken Leichen weg, weil diejenigen, die das machen sollten, auch bereits tot waren. Millionen sind gestorben. Manche, und auch meine Oma, überlebten, um ihr ganzes weiteres Leben Trauzeugen einer Nahrungskirche zu sein. Essen wurde für sie zu Gott erhoben, einem Gott, der unter schlechten Umständen wieder zu verschwinden drohte. Man musste aufpassen und die Speisekammer möglichst voll behalten. Man musste sammeln, sparen, sparsam verteilen, nicht erlauben, verstecken, jahrelang im Kühlschrank aufbewahren.

Das alles tat meine Oma. Sie aß schnell und ohne Genuss, sie verschluckte Teigtaschen oder Kartoffelpuffer, ohne den wirklichen Geschmack zu bemerken, egal, ob kalt oder heiß, frisch oder bereits verdorben. Nach der Mahlzeit wischte sie mit Ehrfurcht Brotbröseln vom Tisch, schmiss sie in den Mund und befahl mir, dasselbe zu machen. Ich weinte, da ich nicht mehr hungrig war. Und der Tisch schien mir gar nicht sauber zu sein. Sie sagte streng: Bald kommt wieder der Hunger und du wirst sehen, wie schön das ist, nichts zu essen zu bekommen, dann wirst du dich nach diesen Bröseln sehnen! Ich dachte manchmal, sie selbst sehnte sich nach einer erneuten Hungersnot, vielleicht wollte sie wieder eine Katastrophe erleben, die ihr Wesen bestimmte. Es ist erniedrigend an Hunger zu sterben, es ist auch erniedrigend zu sehen, wie die anderen an Hunger sterben. Oder wollte meine Oma den unbesonnenen Nachkömmlingen den erworbenen Glauben weitergeben, ihren furchtbaren Gott zeigen?

Das Leben und der Bauch

Im Alter vergaß sie ihr Leben und ihre Kinder, sie sah überall kleine Tiere und fürchtete sich davor, alleine zu sein, sie vergaß auch mich, obwohl ich überzeugt war, wir zwei hätten einen engeren Kontakt, eine Beziehung, die man doch als eine schwache Liebe bezeichnen könnte. Das Einzige, was die Oma nicht vergaß, war das Essen. Sie war ständig hungrig, speiste ununterbrochen und wollte mehr. Das Essen verschwand in ihrem dünn und klein gewordenen Körper wie in einem schwarzen Loch, aus dem keine Energie mehr herauskam. Ich hoffe, jetzt ist sie von ihrem Hunger endlich befreit. Ich erbte ihn, ich esse für sie weiter.

Und ich glaube nicht, dass ich in der Lage wäre, auf das Essen zu verzichten. Einmal machte ich es zwar, nachdem ich gelesen hatte, es sei gesund. Eine Woche bereitete ich mich vor, doch als der Termin kam, verspürte ich eine unheimliche Angst und verschob meine Heilung auf den nächsten Tag. Und dann wieder auf den nächsten, und dann noch einmal. Als ich es eines Morgens schaffte, nicht zu frühstücken, ging es dann irgendwie weiter, ich trank viel Kräutertee und fühlte mich seltsam leicht und zerbrechlich, ich bewegte mich langsam und vorsichtig, weil ich meinen Körper wie aus Glas empfand. Ich verbat mir zu arbeiten und sogar zu denken, weil ich sicher war, dazu zu wenig Kraft zu haben. Am Abend lag ich nur noch auf dem Sofa und träumte davon, etwas kauen zu können, etwas zu riechen, den Bauch nicht mehr trommelnd zu spüren. Mit meiner sprachwissenschaftlichen Ausbildung dachte ich daran, dass das Leben und der Bauch im Ukrainischen einen gemeinsamen Wortkern haben. Vielleicht ist genau das unser größtes Problem.

Hungerkünstler, die Anfang des 20. Jahrhundert als öffentliche Attraktion über einen langen Zeitraum fasteten, saßen im Gitterkäfig und das Publikum begutachtete und bewunderte ihre Kunst. Später kam das Hungern aus der Mode. Franz Kafka schrieb eine Geschichte über einen solchen Hungerkünstler, der, auch wenn das Publikum weg war, weiterhin hungerte. Vor seinem Tod erklärte er, dass er gerne etwas essen würde, fand aber im Leben nichts, was ihm wirklich schmeckte. Meinte er vielleicht Freiheit?

Die Sonne geht auf und unter wie gewöhnlich

Ich frage mich: Wie schmeckt die Ungerechtigkeit, das Verwerfen der menschlichen Rechte, eine solche Art des Widerstandes, in dem du nur deinen eigenen Körper als Waffe hast und, um zu gewinnen, dich selbst töten musst? Der Gitterkäfig ist wieder besetzt, das Publikum schaut nicht mehr hin, Widerstand ist gerade aus der Mode geraten. Und doch frage ich mich, wie schmecken Intellektuelle, die schweigen, und auch diejenige, die den Mut haben, etwas zu sagen?

Während der Hungersnot in der Ukraine kamen westliche Journalisten und Künstler und bezeugten später, dass es in der UdSSR den Menschen hervorragend ginge. Wie schmeckt eine solche Lüge und welche Folgen hat sie? Eine Lüge lebt länger als eine Wahrheit. Als der heilige Patrick von Irland, der vierzig Tage für sein Volk hungerte, starb, ging die Sonne zwölf Tage nicht unter.

Der zu zwanzig Jahren verurteilte politische Gefangene Russlands, der ukrainischer Filmemacher und Schriftsteller Oleh Senzow, hungert bereits mehr als vierzig Tage, aber die Sonne geht auf und unter wie gewöhnlich. Ich esse wie gewöhnlich, sogar ein bisschen mehr, weil ich Beruhigung und Trost brauche. Und ich frage mich, wie schmecken Lindenblätter? Meine Oma sagte, dass sie bitter sind. Ich glaube, eher erniedrigend.

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