Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Nur die Quote zählt

 

Aufmerksamkeit bekommt derzeit nur populistisches Geschrei, nicht die kritische Reflexion. Gerade in Deutschland sollte man sich an die Gefahr von Propaganda erinnern.

Populismus – Nur die Quote zählt
© plainpicture/Millennium/Attura Nadia

In dem klugen, differenzierten Beitrag von Michael Ebmeyer vom 6. Juni gibt es einen einzigen Punkt, den ich mir noch präziser und differenzierter gewünscht hätte – und der steht gleich in der Überschrift. Die undogmatische, selbstkritische „linke Erzählung“, die der Autor vermisst und verzweifelt sucht, gibt es nämlich längst. Ein Nachdenken kritischer Intelligenz darüber, „wie wir uns von der neoliberalen Irrlehre lösen und erkunden, wie eine neu und demokratisch fundierte internationale Solidarität aussehen kann“, findet an vielen Orten statt – unter anderem auch hier im Freitext. Allerdings ist dieses Nachdenken so sehr im Lärmteppich des medialen Tagesgeschäfts verstreut, dass ihr Gemeinsames aus eigener Kraft offenkundig kaum noch bemerkt wird. Ebmeyers Argumente korrespondieren in vielem, was in früheren Beiträgen zuletzt – als zwei Beispiele für viele andere kritische Stimmen, die sicherlich ebenfalls zu finden sind – von Dagmar Leupold oder mir vorgetragen wurde. Das thematische Zentrum ändert sich – MeToo-Debatte, Populismus, konservative Revolution, Sigmar Gabriel lobt Thea Dorn etc. –, die Analysen berühren sich, die Forderungen sind ähnlich. Aber dass dies und wie dies alles zusammenhängt, wird offenbar nicht wahrgenommen, geschweige denn herausgearbeitet.

Woran liegt das? Wie wäre dem entgegenzuwirken? Kritisches Denken bedarf der Unterstützung durch einen Kulturjournalismus, der das Verstreute zusammendenkt, das Nachdenken konturierend begleitet. Warum aber versäumt die mediale Öffentlichkeit, ausgerechnet für undogmatische, kritisch reflektierende Diskussionen angemessene Aufmerksamkeit aufzubringen, während alle Aufmerksamkeit ständig auf das reaktionäre Geschrei von Populisten gerichtet wird? Wie steht es diesbezüglich ums journalistische Ethos, um die Selbstkritik der vierten Gewalt? Wieso andererseits redet die Kanzlerin, wenn sie von Europa spricht, nur vom Wirtschaftsstandort, nicht aber von der Idee Europa? Darüber, wofür es steht? Über den Stellenwert kritischer Vernunft, die Rolle von Bildung und Kultur bei der Verwirklichung dieser Idee?

Das Abgleiten in Barbarei verhindern

Ganz ohne Zweifel ist ein Grund dafür in der feindlichen Übernahme unserer Öffentlichkeit durch verkaufs-, also konsumorientierte Marktstrukturen zu finden. Seit mindestens zwanzig Jahren ist Absatz, also Quantität, also Quote ausschlaggebend für die Verbreitung von Haltungen, Meinungen, Bewertungen – wer glaubt, dies hätte sich nicht schon längst erzieherisch prägend auf die Strukturen des Denkens vieler, gerade auch junger Menschen ausgewirkt, die etwas anderes gar nicht mehr erfahren haben, ist naiv oder – geschichtsvergessen. Gerade in Deutschland, sollte man meinen, müsste das Wissen um die Macht und Gefahr struktureller Propaganda noch vorhanden und wach sein. Und allerspätestens seit dem Cambridge-Analytica-Skandal um den Missbrauch von Facebookdaten zu Wählermanipulationen ist sie für alle offen sichtbar. Wo aber bleiben jenseits von Empörung und ersten, noch reichlich ungelenken juristischen Schritten die bildungs-, die kulturpolitischen Gegenmaßnahmen?

Geschichtsvergessenheit – kritische Intellektuelle und Schriftsteller haben schon einmal versucht, dem Abgleiten einer Gesellschaft in die Barbarei mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln des Denkens und der Sprache entgegenzuwirken. Bekanntlich vergebens. Dennoch: Mein Geschichtsbild von Deutschland zwischen 1918 und 1933, dem Ende des Kaiserreichs und dem Anfang der NS-Diktatur, ist immer geprägt gewesen von der Vorstellung heftiger, öffentlich geführter Kontroversen und ideologischer Kämpfe. Vor meinem geistigen Auge sah ich jede Menge bedeutende Denker und Dichter in diese Kontroversen und Kämpfe involviert. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklung haben mich ihre Positionen und Thesen zum gesellschaftlichen Stand der Dinge, die kritischen Analysen, ihr Kampf mit Worten wieder vermehrt beschäftigt – nicht zuletzt die Frage, warum dieser Kampf gegen eine politische Dynamik, die dazu führte, dass Hitler und die Nazis die Macht an sich rissen, gescheitert ist, und ob sich daraus etwas lernen ließe.

Als ich in die gesellschaftskritischen Schriften jener Zeit eintauchte, stieß ich jedoch überraschenderweise auf eine ganz andere Realitätswahrnehmung. Zum Beispiel in einer Besprechung aus dem Jahr 1924 von Heinrich Manns Diktatur der Vernunft. Die erste Hälfte dieses Textes beschäftigt sich ausschließlich mit dem damaligen Zustand der kritischen Intelligenz. Rezensent war Joseph Roth, der Autor des Radetzkymarschs, dem grandiosen Roman über den Untergang der K.u.K.-Monarchie. Roth schreibt: „Niemals haben die deutschen Dichter so laut gesprochen, wie sie jetzt schweigen (…). Man hört es und es verurteilt selbst diejenigen, von denen es ausgeht.“ Und dann schließlich: „Diese Vorrede war notwendig, um eine Erscheinung zu erklären, die in allen anderen europäischen Ländern eine Selbstverständlichkeit wäre und bei uns eine Tat ist. Heinrich Mann, seit Jahren der einzige Rufer von Geist im brüllenden Streit der reaktionären Barbaren (des Großkapitals, des Nationalismus, des völkischen Gedankens), schreibt ein Buch.“

Die Bewegungsfreiheit der Sprache verteidigen

Das alles klingt in meinen Ohren doch ziemlich aktuell. Auch die gegenwärtige Öffentlichkeit begleitet und verstärkt eher die Verlautbarungen von reaktionären Schreiern unter den Schriftstellerkollegen, während eine Auseinandersetzung mit Stimmen, die den gesellschaftspolitischen Erschütterungen mit der reflektierenden Kraft des Geistes, der Sprache begegnen, kaum stattfindet. Wie bereits gesagt, diese Stimmen existieren natürlich in irgendwelchen Nischen, so wie sie in den seinerzeit sicher noch etwas weniger nischigen Nischen existiert haben – und sollte man sie später tatsächlich einmal sammeln und bündeln, würden sie vermutlich ein ähnliches konzises Bild von Opposition und Widerständigkeit in Zeiten des beginnenden Kollapses der ökonomischen und digitalen Globalisierung ergeben, wie wenn man von jetzt aus auf die Weimarer Republik zurückblickt. Auf Stellen wie bei Joseph Roth, an denen von einer Dominanz des Schweigens im allgemeinen Geschrei die Rede ist, stieß ich bei meinen Lektüren jedenfalls ständig. Offenbar gab es damals wie heute eine enorme Ohnmacht der kritischen Intelligenz gegenüber einer durch und durch emotionalisierten politischen Öffentlichkeit. Nicht gerade beruhigend, dieser Befund, und schon eine erste Antwort auf die Frage, warum der Kampf scheitern musste.

Die herausragende Rolle Heinrich Manns im Elend des damaligen Populismus bestätigen viele vor allem jüngere Kollegen jener Zeit. Für mich ist er neben Alfred Döblin bis heute ein zentraler Bezugspunkt in der Literaturgeschichte geblieben. Nahe fühle ich mich beiden, weil ich mir einbilde, dass mein Verhältnis als Schriftsteller zur Politik dem ihren verwandt ist: nämlich klar und kompromisslos auf der Seite der Benachteiligten, der Ausgebeuteten, der von verzerrten Wirklichkeitsdarstellungen und falschen Versprechungen Hereingelegten zu stehen, und gleichzeitig ebenso klar und kompromisslos die Bewegungsfreiheit der Sprache, die Autonomie des Denkens zu verteidigen, ja, sie als Voraussetzung für tatsächlich demokratische Verhältnisse zu begreifen.

Doch obwohl die Beobachtungen und Standpunkte der beiden für den zeitgenössischen politischen Diskurs hochaktuell und in vielem überzeugend geblieben sind, scheint ausgerechnet ihr Nachdenken über Ursachen und Zusammenhänge des allmählichen Abrutschens einer Gesellschaft in den Totalitarismus aus dem historischen Bewusstsein weitgehend verschwunden. Was die Nazis begannen, beweist mittlerweile – nach einem Lichtblick in den Sechzigern und Siebzigern, als man die Literatur der von den Nazis verbrannten Dichter aufarbeitete – wieder seine Kontinuität. Von Döblin ist heute gerade noch Berlin Alexanderplatz in der Filmversion von Rainer Werner Fassbinder bekannt, während Heinrich Manns Der Untertan mit seiner minutiösen Darstellung des Wilhelminismus – einer nun wirklich historisch gewordenen Lebenswirklichkeit – allenfalls als verstaubte Schullektüre eine Randexistenz in einem nahezu literaturfrei gewordenen Deutschunterricht fristet.

Die unkontrollierte Macht des Kapitals

Während also das Bewusstsein für Literatur als Erkenntnismedium und Wahrnehmungskorrektiv insgesamt auch ohne Autodafé in Auflösung begriffen ist, geht das nur scheinbare Schweigen der Schriftsteller im allgemeinen Geschrei weiter, das sich in Wahrheit dem Überhören oder Weghören einer offenbar an vertiefender und differenzierender Erkenntnis desinteressierten Öffentlichkeit verdankt. Präzise Auseinandersetzung, Reflexion, Diskurs, scheinen weder gewünscht, noch werden sie politisch gefördert. Was für gegenwartsnahe Diskussionsgrundlagen hingegen würden Alfred Döblins Wissen und Verändern! Offene Briefe an einen jungen Menschen von 1931, Heinrich Manns Die Tragödie von 1923 bieten! Geschichtsvergessenheit – hier mein kleiner Beitrag, ihr entgegenzuwirken.

Heinrich Mann schreibt seinen Essay zur Zeit der französischen Besetzung des Ruhrgebiets und der Inflation. Es ist gerade vier Jahre her, dass sich Deutschland eine demokratische Verfassung gegeben hat. Schon ist sie wieder bedroht. Das erste Kapitel trägt den Titel: Das Sterben der geistigen Schicht. Mann vermisst intellektuelle Gegenwehr. Vor Kurzem noch hatte er im revolutionären München einen „Rat geistiger Arbeiter“ mitgegründet, bald darauf schon die Rede auf den ermordeten Kurt Eisner halten müssen. 1923 ist – kein Wunder in der Not der Krise – vom Aufbruch nur wenig übrig. Außer bei Reaktionären und Nationalisten. Der eigentliche Feind, da ist Heinrich Mann sich mit dem österreichischen Kollegen Karl Kraus einig, ist aber die unkontrollierte Macht des Kapitals.

Seine Gegenposition ist gleichfalls klar: „Das große Mittel ist: Ordnung des Wirtschaftlichen vom Geistig-Sittlichen aus. Nicht, wie jetzt: Wirtschaft zuerst; und blüht sie erst wieder richtig, liefert sie, durch Verwertung der Abfälle, nebenbei wohl auch noch seelisch-geistige Erneuerung, das können wir erwarten. – Ihr könnt lange warten!“ Im Gegenteil besteht für Heinrich Mann eine unmittelbare kausale Verknüpfung zwischen einer Ökonomie als Selbstzweck und der geistigen Abstumpfung und sittlichen Verrohung einer ganzen Gesellschaft. Die Politik einer demokratischen Republik hingegen beziehe „ihr ganzes Daseinsrecht“ aus der Abwehr einer jeglichen Form von Diktatur. Diese Formen zu erkennen gehört für ihn zu den Aufgaben kritischer Intelligenz. Wirtschaft aber, sagt die kritische Intelligenz Heinrich Mann, sei zu einer „Diktatur ohne Putsch“ geworden.

Die Gier Maß aller Dinge

Heinrich Manns Auffassung von der Verantwortung eines Schriftstellers, zu der neben der Durchdringung zeitgenössischer Lebenswirklichkeit auch die kritische Stellungnahme gehört, brachte er bereits im berühmten Zola-Essay von 1915 auf dem Punkt, der zum Zerwürfnis mit Bruder Thomas führte – die Invektiven gegen den vaterlandsverräterischen „Zivilisationsliteraten“ in Thomas Manns über weite Strecken unerträglich chauvinistischen Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918 sind auf Heinrich gemünzt. „Literatur und Politik“, schreibt dieser, „hatten denselben Gegenstand, dasselbe Ziel und mussten einander durchdringen, um nicht beide zu entarten. Geist ist Tat, die für die Menschen geschieht; – und so sei der Politiker Geist, und der Geistige handle!“ Was Bruder Thomas wurmte, weil er es ganz auf sich bezog, war Heinrichs Urteil über Schriftsteller, die sich dieser Verantwortung nicht stellten. Es galt – gilt auch heute – durchaus noch für andere: „Wie, wenn man ihnen sagte, dass sie das Ungeheure, das jetzt Wirklichkeit ist, dass sie das Äußerste von Lüge und Schändlichkeit eigenhändig mitherbeigeführt haben.“

In Die Tragödie von 1923 untersucht Heinrich Mann u.a. den Wandel des Begriffs Nation vor dem Hintergrund der Entwicklung des Bürgertums seit der Französischen Revolution. Anfangs, als Patriarch, verwechselt der Bürger seine Geschäftsinteressen noch mit denen Gottes; Nation bedeutet ihm nicht mehr als „ein sonntägliches Gefühl von Vaterland“. Doch bald tritt ein neuer Typus von Bürger auf, in dem „nur noch die durchfiltrierten Instinkte der Klasse in Person der Gierigsten“ wirksam sind. Vaterland, Nation sind für ihn gleichbedeutend mit Profit machen – „denn wie dient man dem Vaterland? Mit Geldverdienen.“ Dieser Typus nun steckt nicht nur den Mehrgewinn, sondern „das Vaterland selbst in den Sack“.

Mann erweist sich als eine Art Prä-Foucaultianer, wenn er die Strukturen von Machtgewinn und Machterhalt dieses neuen herrschenden Typus beschreibt, den er pauschal „kriegsindustrieller Bürger“ nennt: Denn diese Strukturen basieren nach seiner Auffassung auf einer Transformation des Begriffs Nation zur ideologischen Waffe, die er benutzt, um „das Volk so gründlich hineinzulegen, dass es sich selbst auf keine Weise mehr helfen kann“. Die Geldinteressen der Reichsten werden „das einzig Bestimmende“, und über die öffentliche Meinung, wo Pressefreiheit „auch ohne ausdrückliches Verbot“ an der Totalität der Geldideologie erstickt, greift eine „Art Betäubung des ganzen Landes“ um sich. Heinrich Mann schreibt: „Sie haben das Raffen zum Maß der Dinge erhoben, ja, auch Menschen haben für sie nur dies Maß. Ihnen entgehen sämtliche menschlichen und politischen Wahrheiten oder gar Keime zu Wahrheiten. Gegen sie waren Monarch und Generalstab humanistische Genies.“

An der Vergeistigung mitwirken

„Wirtschaft“, solchermaßen entfesselt, sprich: menschlich verroht, setzt Mann – wie später auch Alfred Döblin – mit Recht in Anführungszeichen. Als politische Gegendynamik fordert er eine Art Umkehrung der Machtverhältnisse: Die Gesellschaft muss wieder der Ökonomie übergeordnet werden, die Ökonomie darf nicht wie damals – nicht wie heute – der Gesellschaft übergeordnet sein. Wie das geschehen soll, ist für Mann nicht zuletzt eine Frage der Umsetzung der Verfassung von 1919. 1923, im offenen Brief an Reichskanzler Gustav Stresemann, fordert er angesichts des sozialen Elends durch die Inflation von der Regierung den Einsatz von Staatsgewalt für eine „Diktatur der Vernunft“ über Willkür und Eigennutz der Großindustriellen – statt wie bisher „dem Staat den Henker zu mästen“. Nationalismus aber begegnet er mit Internationalismus, ohne den es „heute kaum noch vorgeschrittene Geistigkeit“ gebe. Heinrich Mann träumt von einem Vereinigten Europa, von europäischer Identität, die er als gegenseitige Durchdringung von Geist und Tat definiert. „Die Handlungen unserer Länder sollen Ideen haben.“ Hier sieht er die Schnittstelle von Politik und kultureller Intelligenz.

Dass ihm für seine soziale Utopie weder die Abschaffung des Privatbesitzes noch eine Diktatur des Proletariats vorschwebt, teilt Heinrich Mann mit Alfred Döblin, dessen Analyse des gesellschaftspolitischen Stands der Dinge in seinen Offenen Briefen an einen jungen Studenten von 1931 überhaupt sehr viel Deckungsgleichheit mit der in Die Tragödie von 1923 aufweist. Manns utopische Vision, die er als eine Verschränkung von „Ständevertretung mit Parlamentarismus“ umschreibt, eine Gesellschaft mit „sozialisierten Großbetrieben“ und „ungezählten neuen kleinen Besitzern“, erinnert eher an das Parteiprogramm der SPD unter Willy Brandt. Bei Döblin scheint der Begriff Sozialismus dann auf den ersten Blick nahezu abstrakt – „vergeistigt“, um ein Lieblingswort beider Autoren zu verwenden, wenn sie die zentrale Aufgabe des Intellektuellen definieren, nämlich an einer Vergeistigung mitzuwirken, die in einen heutigen Sprachgebrauch vielleicht zu übersetzen wäre mit: die Schaffung von Voraussetzungen für eine Emanzipation aus Fremdbestimmung und Selbstunterwerfung.

Genau das wurde Döblin in den heftigen Debatten, die das Buch nach Erscheinen auslöste, nicht zuletzt angesichts der politischen Realitäten auch vorgeworfen. Siegfried Kracauer etwa sprach dem Buch aber, trotz harscher Kritik, gleichzeitig das Verdienst zu, den Anfang zu machen für ein Gespräch über die Frage, was „unsere Intelligenz“ tun soll in einer Lage wie sie 1931, unter den Folgen der Wirtschaftskrise und des Erstarkens der Nationalsozialisten herrschte, „und das an Döblin anzuknüpfen haben wird“. Dieses Gespräch wurde dann bekanntlich durch Hitler vorzeitig beendet.

Wissen und Verändern

Das Gespräch wieder aufzunehmen, auch den verlorenen öffentlichen Hallraum dafür zu schaffen, ist jedenfalls ein Appell, der aus jener Zeit in unsrige herüberreicht. Und Döblins Buch könnte nach wie vor ein Ausgangspunkt sein. Denn die meiste Kritik seiner aufgewühlten Zeitgenossen verkennt den formalen Charakter des Textes. Döblin schreibt nicht wie Heinrich Mann Essays zur Lage der gesellschaftlichen und politischen Situation. Seine Offenen Briefe sind eine Antwort an einen jungen Studenten, der ihn in ideologisch bedrohlicher Zeit um „geistige Hilfe“ bittet – und zwar mit einem Zitat von Döblin selbst, worin er genau dies zu den Verpflichtungen des Schriftstellers rechnet. Was Döblin sich also zur Aufgabe gesetzt hat, ist nicht in erster Linie Analyse und Kritik – die dient gewissermaßen vor allem zur Veranschaulichung. Vielmehr versucht er möglichst klar und nachvollziehbar, einen Zugang zu schaffen zu einem Verständnis dessen, was vor allen Ideologien und politischen Programmen Grundlage für die ethische Haltung jedes einzelnen Menschen bildet. Sein Ziel besteht darin, Menschen wie jenen studentischen Briefschreiber eine Art Handhabe zu liefern für ein eigenes Urteil und eine eigene Haltung. Döblin möchte „Sozialismus wieder als Utopie herstellen“, ihn aus der Umklammerung von „Totaltheorien“ ablösen und seinen nach Orientierung suchenden jungen Adressaten gegen die Fehlleitung durch ideologische Dogmen wappnen.

In Wissen und Verändern! wird Sozialismus verstanden als „die urkommunistische [Position] der menschlichen, individuellen Freiheit, der spontanen Solidarität und Verbindung der Menschen, des Widerwillens gegen Neid, Hass, Unrecht, Vergewaltigung! Das sind elementare Triebe im Menschen, keine ‚idealistischen‘ Schwärmereien“. Döblin nennt sie „die größten Ideen der Welt“. Sein Verhältnis zu Marx ist ambivalent, dessen Bedeutung in der geschichtlichen Dynamik der menschlichen Befreiung sieht er in der „konsequenten Vertiefung und Ausbreitung der alten Ideen auf das Wirtschaftsgebiet“, doch habe er „versagt in allem, was über die Entlarvung (…) hinausgeht“. Die Sowjetunion ist ihm ein „robustes Züchtungsexperiment mit einem Ameisenideal“, dem er sein offenes, prozesshaftes Menschenbild als Ausgangspunkt für einen „Sozialismus des Westens“ gegenüberstellt, wo die „elementare Produktivkraft – Mensch“ „aufrecht und sehr charakteristisch (…) mitten in dem materiellen Prozess steht“. Nach Döblin sind wir Menschen nicht nur Rädchen im dialektischen Getriebe der Geschichte. Wir können wissen und dann auch verändern, denn die Getriebe des Schicksals sind menschengemacht. Darauf legt Döblin seinen durchaus erzieherischen Hauptakzent.

Dass ein derartiger Bildungs- und Erziehungsansatz im Jahr 1931, als die NSDAP bereits mit 107 Abgeordneten im Reichstag saß und es für Döblins Wiederherstellung einer Utopie des Sozialismus als einigende, allmählich und prozesshaft wachsende Kraft zum Widerstand viel zu spät war, gerade auch von links heftig attackiert wurde, und Döblin sich gründlich missverstanden fühlte, ist daher nicht verwunderlich. Sein Anliegen, eine Art geistiges Fundament zu legen, von dem aus für jedes Individuum die hinter populistischem Lärm versteckten Machtstrukturen wieder sichtbar würden, um sich dann erst auch politisch gründlich neu positionieren zu können, löst Wissen und Verändern! jedoch ein wie kaum ein anderer Text in der deutschen Literaturgeschichte. Sich damit und mit Heinrich Manns Essayistik der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts in der Gegenwart auseinanderzusetzen wäre beim derzeitigen Stand der gesellschaftlichen Dinge auf jeden Fall ein gar nicht überschätzender Gewinn – würden deren Argumente öffentlich diskutiert, ihre Bücher denn auch gelesen. Wenn es denn nicht auch jetzt womöglich schon wieder zu spät dafür ist.

_______________

Sie möchten keinen Freitext verpassen? Es gibt einen Newsletter. Hier können Sie ihn abonnieren.