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Die Toten sind lebendig

 

Auf georgischen Friedhöfen isst und trinkt man mit den Verstorbenen, damit es ihnen im Jenseits gut geht. Leider macht die Totenverehrung auch vor Stalin nicht halt.

© Vano Shlamov/AFP / Getty Images

Ich dachte immer, georgische Männer seien extrem stark, lebten sehr lange. Sie gewinnen bei den Olympischen Spielen im Judo Medaillen, genauso wie im Gewichtheben. Ihr Nationalsport spiegelt Ausdauer, Kraft und Macht. Sie sind klein, schwarzhaarig, haben dunkle Gesichter. Ihre Augen sind wunderschön. Und sie sind ungeheuer charmant. Ja, die georgischen Männer sind Helden. Die meisten von ihnen arbeiten in tausend Meter Höhe in den kaukasischen Bergen. Vor Jahrhunderten schon bauten sie Festungen aus Stein, um die Kloster mit den Ikonen aus der Zeit der Regenschaft von Königin Tamar (1184-1213) zu schützen.

Und jetzt, wo ich hier bin, in Mestia in der Region Swanetien, erfahre ich, dass diese schönen Männer aus den Bergen sehr früh sterben. Schon mit vierzig haben viele von ihnen einen Grabstein. Auf diesen Stein ist ihr Antlitz gemalt, sie rauchen und trinken Wein. Wie im Leben: sehr viel, zu viel. Aber sie lächeln mich an.

Die georgischen Männer sind zerbrechlich, sie werden oft krank. Der Fuß tut ihnen weh, das Kreuz schmerzt, sie bekommen früh einen Herzinfarkt (sie lieben auch immer sehr intensiv). Sie leiden an Krebs. Mit vierzig, wenn sie schon Großväter sind, verabschieden sie sich aus dem Inguri-Tal. Sie werden mit Zigaretten und Wein begraben und mit der Hoffnung, dass sie nicht für immer gestorben sind. So gehört der Tote auch im Tod zu den Lebenden – ein Trost für die Angehörigen. Die georgischen Männer leben auf ewig auf dem Friedhof. Es sind die schönsten Friedhöfe in Osteuropa.

Am ersten Tag ahne ich noch nicht, dass ich dem Tod in diesem Land immer wieder begegnen werde. Hier erinnert mich selbst das Lebendige an den Tod. Manchmal ist es nur ein kleiner Altar aus Streichhölzern auf dem Markt, eine Fotografie, die auf einem Grabstein klebt oder eine Pet-Flasche am Kreuz des Heiligen St. Georg.

Die Friedhöfe sind kleine Wunder

Im Kaukasus liegen immerzu Steine auf den Serpentinenstraßen. Das Land ist aus Stein, der Schutz und Halt gewährt. Oder der zum Grabstein wird. Die Bewohner des Bergdorfes in Uschguli benutzen sogar im Frühling, wenn der Schnee geschmolzen ist, ihre Schlitten. Sie nehmen die Schlitten mit hinauf zu dem Steinbruch, in dem sie arbeiten, oder zu den Weiden, weil der Weg im Frühling sehr matschig ist. Alles steht unter Wasser, aus dem Gletscher strömt es eiskalt heraus. Der Berg wird zu einer Rutsche, die man befahren kann, so wie im Winter das Eis.

In Letin gehen wir zum Friedhof. Er liegt auf einem Hügel in der Mitte des Dorfes. Friedhöfe im Kaukasus sind kleine Wunder, so wie in den Karpaten, in der Bukowina oder Galizien. Der Friedhof  ist um die Klosterkapelle herum angelegt, jedes Grab ist ein Altar. Ein besonderer Brauch ist hier, dass die Verwandten ein Kreuz anzünden und mit den Toten gemeinsam essen und trinken. Auf das Wohlsein der Gestorbenen. Man isst Brot und trinkt Rotwein, das Leben des Toten findet nicht allein im Jenseits statt. Auf dem Grabstein sind die Eigenschaften, sogar der Beruf des Verstorbenen verewigt.

Unmittelbar nach dem Begräbnis und am vierzigsten Tag danach isst man gemeinsam mit den Verstorbenen. Wichtig ist, dass man während des gesamten Abendessens anwesend ist. Als wir den Friedhof besuchen und Verwandte eines Verstorbenen kommen, essen wir mit ihnen. Ich trinke aus der Pet-Flasche, die anderen trinken aus Krügen. Gefüllt sind sie mit Rotwein. Sehr süßem Rotwein. Der Tradition zufolge wird der Tote umso mehr geehrt, je mehr Leute mitessen und mittrinken. Nach orthodoxer Sitte stellen wir die Krüge zurück auf das Grab. Die Pet-Flasche stellen wir zurück zur Ikone von St. Georg, direkt zum Kreuz, dann können auch die folgenden Besucher trinken. Es muss immer Wein in der Flasche sein. Man muss alles austrinken und es dann selbst nachfüllen. Dann geht es den Toten gut. Beim Essen brechen wir ein Stück Brot ins so viele Stücke, wie wir Personen sind. Umso mehr  Brotstücke es sind, desto besser geht es denen im Jenseits. Es ist ein Akt der Erinnerung und eine Pflicht für jeden, der ins Dorf kommt.

Wir sind in Stalins Heimatstadt

In Georgien tot zu sein, ist gut. Dein Grab wird gepflegt, du lächelst auf dem Bild auf dem Grabstein, du bist in deinem liebsten Judoanzug begraben. Das Leben zu überleben, ist viel schwieriger, als tot zu sein.

Im Kaukasus ist der Winter bitterkalt. Die Bergmenschen essen und trinken Schnee. Selbst die Wölfe zittern und schreien. Und die georgischen Männer liegen schon als junge Väter oder Großväter im Grab. Wenn es Krieg gab, starben sie früh, wenn sie eine Liebhaberin hatten, dann auch. Wenn Frieden war und sie im Steinbruch arbeiteten, tranken sie zu viel. Es war immer so und ist es umso mehr jetzt, nach dem Ende der Sowjetunion.

Ich habe die toten georgischen Männer gesehen. Herzreißend und wahr ist ihre Präsenz. Als wir in Swanetien auf dem Dorffriedhof das ewige Leben mitgespielt haben, lachten diese Männer uns an. Sie sind glücklich im Grab. Diese Peripherie erschien mir weitaus lebendiger als eine westliche Großstadt, wo die Menschen an die Friedhöfe gar nicht mehr denken. Es dreht sich alles nur um die Selbstverwirklichung, diesen großen Irrtum, und danach kommt dieses Unangenehme, der Tod.

Leben im Kaukasus bedeutet die härteste Arbeit der Welt. Getreideweiden, Hirten, Steinbrüche, Wehrdienst. Damals, in den sowjetischen Zeiten im Roten Armee, auf der Seite Stalins, war es am schlimmsten.

Wir sind keine Georgier, wir sind Kartwelen. Nur die Russen sagten über uns, dass wir Georgier sind, sie haben uns den Namen aufgedrückt und er blieb, erzählt unsere breithüftige, immerzu lachende Wirtin in Gori. Sie lebt von den Besuchern des Stalin-Museums. Wir sind in Stalins Heimatstadt. Sie hat gelernt, was man alles Gutes über Stalin sagen kann. Denn deshalb kommen die Leute: um Gutes über Stalin zu hören. Es ist gut, sagt sie, dass Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili hier geboren ist, wovon sollten wir sonst leben? Meine drei Kinder studieren Englisch in Tiflis. Das ganze Jahr über vermiete ich ihre Zimmer. Es kommen Russen, aber auch Jugendliche aus Westeuropa. Sie essen alles, was ich auf den Tisch stelle. Sie essen Khachapuri und Gurken. Sie essen Brot und Soße.

Als würde man es niemals abreißen können

Ich höre gerne zu, wenn sie erzählt, ich verstehe sie trotzdem nicht. Was zum Teufel kann sie Gutes an Stalin finden? Ich habe so etwas noch nie gehört, bis ich in Stalins Geburtsstadt kam. Aber ja, Stalin war gut, als er Kind war. Seine Mutter war sehr nett, eine Bäuerin. Der kleine, süße Josef schrieb Liebesgedichte und tat viele gute Dinge in der Stadt, als Sozialdemokrat. Das könnten wir uns im Museum anschauen. Auch zu ihren Nachbarn war die Mutter von Stalin sehr nett, außerdem sie hat sehr schön gesungen. Warum soll man sie nicht lieben?

Tatsächlich ist abscheulich, was uns an Stalin-Verehrung im Museum begegnet. Kein Wort über seine blutigen Taten. Stattdessen Zeugnisse seiner Kindergedichte. Zwischen gut und böse wird hier kein Unterschied gemacht. Später sagt der Verkäufer im Lebensmittelladen, man würde immer noch fürchten, dass Stalin zurückkäme, deshalb das Museum. Außerdem sei es eben so mit dem Toten: Man sagt nichts Schlechtes über sie.

Das Museum ist beängstigend idyllisch, unheimlich und furchtbar. Ein Kult der Domestikation, der Gänsehaut bereitet, umso mehr, wenn man in der Bukowina die Grabsteine der verhungerten Ukrainer und Ukrainerinnen gesehen hat. Millionen sind gestorben, auch russische Soldaten. Die Ukraine ist stumm in Georgien, darüber wird kein Wort verloren. Stattdessen regiert der Tourismus. Im Stalin-Museum sind die Dächer aus Gold, die Fassaden und das Treppenhaus üppig verziert, das Gebäude ist schwer und groß, sodass es scheint, als würde man es niemals abreißen können, so wie die Festungen und das Kloster.

Schon am Eingang kann man auf einer Tafel lesen, dass man hier nicht lachen darf. Keine Gefühle. Keine Wahrheit. Man soll stillhalten. Man darf auch nicht schreien, murmele ich vor mich hin. Alles ist bluternst. Kult mit Fabelschaum. Die Verfälschung von Geschichte auf höchstem Grad.

Ist es wegen der Bedrohung durch Russland? Oder ist es ein Zeichen der Zugehörigkeit zur sowjetischen Geschichte? Falscher Stolz?

Ich bin sehr verunsichert nach dem Besuch. Die idyllische Pflege von einem Massenmörder in den Vitrinen macht mir Angst. Die Becher im Museumsladen mit Stalins Kopf darauf. T-Shirts, Handtücher, Servietten. Wer Geschäfte machen will, braucht keine Wahrheit. Nach dem Museum gehen wir in den Supermarkt, der Verkäufer bietet uns Fisch, Käse und gutes Obst an. Das Dessert, das er uns reicht, ist mit Stalins Konterfei bedruckt. Kann ich es ablehnen? So sieht sie aus, die unheimliche Gastfreundschaft Georgiens. Und dennoch liebe ich dieses Land.

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