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Nach zwölf Tagen im Wasser verfaulen die Beine

 

Was kann man ausrichten in einer Zeit, in der junge Männer sterben, die man schon als Kind kannte? Über die Ohnmacht der Worte angesichts des Ukraine-Konflikts

© John MacDougall/AFP/Getty Images ()
© John MacDougall/AFP/Getty Images ()

Ich werde oft gefragt, was die Intellektuellen in der Ukraine dieser Tage machen. Und was sie machen können. Und ich antworte immer, dass es keine allgemeinen Regeln gibt, denn jeder reagiert auf die Situation anders – wird zum Beispiel sehr aktiv, schreibt viel, oder hört auf zu schreiben und wird zum freiwilligen Helfer, bringt den ukrainischen Soldaten warme Socken, Essen und Zigaretten. Oder macht ein Literaturfestival in Slowjansk, wo noch vor Kurzem schwere Kämpfe stattfanden. Oder wird einfach verrückt.

Jeder reagiert anders, ich kann nur von mir selbst sprechen. Das antworte ich immer, und das ist ein großer Fehler, weil die nächste Frage, die kommen könnte, dann lauten müsste: Gut, was machst Du denn? Und diese Frage, die Gott sei Dank noch nie gestellt wurde, ist für mich fatal. Ich mache gar nichts. Diesen Krieg kann ich weder gewinnen noch stoppen. Was ich auch tun würde, es könnte doch nichts ändern.

Die 20-jährigen ukrainischen Jungen kommen aus der Kriegszone nach Hause zurück und sagen lächelnd, dass ihnen die Beine verfaulen, da sie zwölf Tage im Wasser schlafen mussten. Auf die Frage, wie es dort war, was der Krieg eigentlich sei, sagen die Jungen, Krieg sei wie das Computerspiel Counter-Strike, nur eben wirklich. Wenn ich das höre, verstehe ich, wie sinnlos meine und alle anderen Worte der Welt dieser Erfahrung gegenüber sind. Ich bleibe stumm dieser Erfahrung gegenüber und denke, dass das 20. Jahrhundert, das mir früher als böses Märchen erschien, plötzlich so nah geworden ist und so begreiflich.

Manche ukrainischen Intellektuellen, die stärksten, erklären sich bereit, am Propagandakrieg gegen Russland teilzunehmen. Sie versuchen dort, wo ich sofort in Wut oder in Weinen gerate, ruhig zu bleiben und zu argumentieren. Wut oder Weinen seien übrigens am schlimmsten, so sagen sie und behalten natürlich Recht. Man soll mit rationalen, sachlichen und wahren Argumenten vorgehen. Es ist auch ein Krieg der Argumente, sagen sie. Zur Unterstützung wurden ausführliche Anleitungen zusammengestellt, in denen steht, was man in einer Diskussion mit Westeuropäern über die Ukraine sagen kann. Und was besser zu vermeiden ist. In Deutschland, heißt es etwa, ist es nicht gut, Putin mit Hitler zu vergleichen. Deutschland will Hitler mit keinem teilen. Ein anderer Punkt: Sag nicht, wir sind bedroht, sondern – ihr seid bedroht. Nur die sichtbare leibliche Bedrohung bewegt die Menschen. Diesen Punkt habe ich mehrmals ausprobiert und es ist mir noch nie gelungen, jemanden zu überzeugen, dass Europa genauso in physischer Gefahr schwebt wie die Ukraine.

Sicherheit wurde in Europa zu einer neuen schönen Religion, an die man glaubt, als ob es sie schon ewig gäbe. Der Mensch ist hier versichert, sein Haus ist versichert, sein Auto und seine Katze. Und der Gott der Sicherheit verspricht wispernd am Anfang des Monats, wenn man die Rechnungen zahlt, dass es immer so sicher bleiben wird, etwas anderes ist nicht möglich. Solch einen Gott hatten die Ukrainer nie.

Andrij Proschak war mein Nachbar. Wir sind gemeinsam aufgewachsen. Ich war sechs Jahre älter, daher erinnere ich mich gut, wie er in blauen Strumpfhosen und Filzschuhen mit Gummiband, damit sie nicht abrutschen, kopflos durch unsere Wohnung rannte. Er besaß alle möglichen Pistolen und Gewehre. Seine Eltern liebten ihn sehr, weil er das einzige Kind war. Mit 25 Jahren schloss Andrij seine Studien ab und wollte ein Mädchen heiraten. Als er in den Krieg ging, wurde seine noch nicht alte Mutter innerhalb eines Tages weißhaarig. Sie jammerte nicht, wartete nur. Er rief sie einmal in der Woche an und erzählte, dass die Soldaten sich dort möglichst tief vergraben müssen. Je tiefer unter der Erde du bist, desto größer sind deine Überlebenschanсen.

Andrij vergrub sich tief. Doch das hat nicht geholfen, und als er starb, bei Debalzewe, musste seine weißhaarige Mutter nach Osten fahren und ihn in vielen Leichenhallen suchen. Sie erkannte ein Muttermal an Andrijs Fuß.

Es gab Andrij, und plötzlich gibt es ihn nicht mehr. Er wuchs, lernte die Welt kennen, entdeckte und forschte, um diese Kenntnisse nie in der Praxis auszuprobieren. Zehn Sätze genügen, um das Leben von Andrij zu beschreiben. Seine blaue Strumpfhose und die Filzschuhe mit dem Gummiband sind eher überflüssig.

Es gibt mittlerweile eine ganze Generation von Jungen in der Ukraine, deren Leben aus lediglich zehn Sätzen besteht. Eine einzige sparsame Erwähnung im Internet erhalten diese Jungen, wenn sie sterben. Nur ihr Tod ist wertvoll genug, um im Internet einen bescheidenen Platz zu finden. Ich bleibe stumm solcher Realität gegenüber. Alle Worte der Welt sind solcher Realität gegenüber sinnlos.

Doch ich schreibe diese Zeilen vielleicht, um mich nicht aufzugeben. Wenn ich und die anderen, die am Leben geblieben sind, sich aufgeben, dann hat der Tod von Andrij Proschak noch weniger Sinn als zuvor.

Diesen Krieg kann ich weder gewinnen noch stoppen. Was ich auch tun würde, es würde doch nichts ändern. Es wäre egal. Nicht aber für Andrij Proschak.

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