Jedes Jahr flammt sie auf, diese heuchlerische Diskussion über junge Mädchen in Hotpants. Unsere Autorin überrascht sich selbst mit der Lösung: Her mit der Schuluniform!
Ich schätze den Berliner Hauptbahnhof ganz besonders: Wenigstens die Rolltreppen funktionieren in der Regel. Verlässlich schwebt man auf ihnen in die obere Gleiswelt, direkt unter den unübertrefflich treffenden Werbeschriftzug auf der Westseite des Gleisdaches: „Bombardier“. In Riesenlettern. Ein bombiges Wort, in Berlin und der hiesigen Geschichte am richtigen Platz.
Letzte Woche passierte es dann. Die Bombe wurde – wirklich. Unmittelbar vor meiner Nase schwebte sie auf der Rolltreppe in Gesichtshöhe vor mir. Gehörte, ich sag jetzt mal: einer Amerikanerin. Sie erleben hier die krude Verwendung eines nationalen Klischees, exakt so, wie es in Wirklichkeit vorkommt. Amerikanerin! Reden hörte ich sie nicht, die beiden jungen Frauen ein paar Stufen über mir, jede mit blonden dicken Zöpfen und noch sehr viel dickeren, weißen, perfekt rasierten, im Übrigen aber eben stämmigen, sprich prall gefüllten, halbnackten Beinen. Eine trug Strümpfe bis zum Knie. Helle Spitze. Der Rest: Haut, gefolgt von einem weit oben sitzenden Hosensaum. Sehr weit oben.
Hot waren die zugehörigen, dank ihrer Knappheit erst auf den zweiten Blick entdeckbaren Pants durchaus. Ich trat auf der Rolltreppe einen Schritt nach unten, um etwas Bombenfreiheit zu gewinnen und bewunderte den Mut der beiden Amerikanerinnen. Ebenso die, nunja, modische (?) Kombination aus Tramperrucksack, Spitzenstrumpf, Dickbein und Kürzesthose. Die mir schon bei anderen Gelegenheiten aufgefallen war.
Für Mädchen und Jungfrauen müssen Hotpants ein auf ganz eigene Art vergnügliches Kleidungsstück sein. Ich erinnere mich daran, auch so herumgelaufen zu sein, obwohl meine Proportionsverhältnisse selbst dann gegen Kurzhosen sprechen, wenn ich nur 50 Kilo wiege. Da auf der Rolltreppe erinnerte ich mich mit einem Mal daran, dass ich damals in den Pants vor allem stolz gewesen war. Es hatte sich gut angefühlt, sie zu tragen, weiblich und jung. Und: Ich hatte die Hosen ohne nach außen gerichtete Absichten angezogen. Für mich – nicht für andere.
Heuchelei ist schlimmer als Kleidungsvorschriften
Von morgen an kann ganz Deutschland große Ferien feiern. Der größte Vorteil liegt nun auf der Hand: Alle können zum Berliner Hauptbahnhof fahren und Bomben bewundern! Ich aber komme an und rede jetzt über Hotpants in Schulen. Genau: Ich benutze Hotpants, um Sie in diesen Text zu locken und eine Lanze für Schuluniformen zu brechen!
Mit diesem Gedanken überrasche ich mich selbst: Ich – für eine Uniform?
Doch, ja. Weil ich Heuchelei noch sehr viel weniger mag als Kleidungsvorschriften. Entweder gibt man Kleidung frei (Kleidung bedeutet: Stoff ist vorhanden) und sieht sich mit ausschnittbetonten T-Shirts, Bauchnabeln, langen Beinen, möglicherweise auf High Heels, in Hotpants, konfrontiert. Konfrontiert auch mit der Aufgabe, in dem einen oder anderen Fall abzuwägen – und Grenzen festzulegen. Oder man führt die Schuluniform ein.
Heuchlerisch an der jeden Sommer aufflackernden Aufregung um die Kurz- und Kürzesthose an der jungen, lernbereiten Frau: Unsere Bekleidungsindustrie lebt davon, dass es unterschiedlichste Modeartikel und Dresscodes gibt. Ständig werden sie in Fernsehsendungen, Illustrierten und Spielen, an Puppen, auf Plakaten und Bildschirmen vor uns ausgebreitet, ständig in den Straßen herumgetragen und gezeigt. Vor der Schule meiner Tochter warb am letzten Schultag ein unterbekleideter, unterernährter weiblicher Körper auf einem Plakat für Bikinihöschen für 8,99 € (oder war es noch weniger?). Daran nahm keiner Anstoß.
Die Schuluniform löst diverse Probleme. Sie betreffen Fragestellungen des Zusammenlebens, die man keineswegs einem Wirtschafts- oder Mediendiktat überlassen sollte: soziale Ungleichheit, Markenorientierung der Jugendlichen, Angeben mit dem Einkommen der Eltern. Valide Argumente.
Auch gegen die Uniform finden sich valide Argumente
Entscheidend allerdings erscheint mir ein anderer Aspekt: Daran, dass Schule ein Raum ist, dessen Benutzer sich miteinander vergleichen und aneinander reiben, ändert eine Schuluniform nichts. Gibt es sie, muss der Abgleich „wer bin ich, wer bist du“ auf anderen Ebenen als der Kleidungsebene ablaufen. Das ist eine Chance. Allerdings nur, wenn man den freiwerdenden Vergleichsraum mithilfe pädagogischer Mittel auffängt und in möglichst produktive Bahnen lenkt. Dass Sport an britischen Schulen von jeher eine so große Rolle spielt, mag durchaus mit der Tradition der Schuluniform verbunden sein.
Unser Alltagsleben wird selbstverständlich auch, was Kleidung und Mode angeht, von uns selbst gemacht und genutzt. Textil- und Modeindustrie tragen nicht unwesentlich zu unserem Bruttosozialprodukt bei, sie werfen Steuern ab, erzeugen Einkommen, machen, mal mehr, mal weniger, Spaß: mit der Mode gehen. Dass die Lichter und Schatten dieser Vorgänge auch in den Klassenraum fallen, ist unvermeidlich.
Die Alternative: keine Schuluniform. Auch dafür finden sich valide Argumente. Befreiung von Zwang und Gleichmacherei. Doch dann müssen wir uns auch gegenüber Lehrerinnen und Schülerinnen, Schülern und Lehrern den erwähnten Problemen stellen. Hotpants und Miniröcke im Klassenraum – aber ja. Das immer mal wieder zu hörende Argument, Ausschnitte am oberen oder unteren weiblichen Körper gehörten verboten, da sie Männer verführen, ignoriere ich, weil es Männer beleidigt. So viel Freiheit und Triebkontrolle will ich dem Gegenüber gern zumuten.
Inzwischen standen die beiden US-amerikanischen Mädchen am Ende der Rolltreppe und sahen sich suchend um. Von ihrer Kleidungssouveränität hätte ich mir mit 20 und noch mit 30 wahrlich etwas abschneiden können. Vielfalt der weiblichen Formen – und sie auch herzeigen. Chapeau!
„Nice„, sagte ich zu der mit den Spitzenstrümpfen, „nice dressing up“. Sie lächelte, erschien schüchtern. Nach einer Weile beugten wir uns gemeinsam über ihr European itinerary. Über unseren Köpfen funkelte, nehme ich an, „Bombardier“.
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