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Für den Krieg zu alt, für Demenz zu jung

 

Lange wachte er am Rand der westlichen Zivilisation, dann wurde er ihr als Erster geopfert. Mit 62 lernt er kochen. Töten würde er sofort: der ganz normale Ukrainer.

Der ganz normale Ukrainer- Freitext
© Odd Andersen/AFP/Getty Images

Er hat zwei Töchter (wobei er sich immer einen Sohn wünschte), eine Dreizimmerwohnung im sowjetischen Hochbau, die er im letzten Jahr der Sowjetunion als hochqualifizierter Ingenieur noch gratis bekam, und eine Frau, die, wie er sagt, im Erdgeschoss bleibt, während er schon in den neunten Stock hinaufgefahren ist.

Genauso wie alle anderen normalen Ukrainer in seinem Alter verlor er mit dem Zerfall des Ost-Imperiums alles, was er besaß. Allen voran seine Arbeit und seine Würde. Ich könnte Schiffe bauen, sagte er bedauernd, wenn er auf dem Markt in der Nachbarschaft ein kleines Geschäft abgeschlossen hatte. Niemand wollte seine Schiffe, alle wollten seinen Wodka.

Wodka braute er zu Hause mit der Frau und den Töchtern. Täglich brachte er ein paar Kisten auf den Markt, wo „seine Leute“ den Wodka weiterverkauften. Ob es Sommer oder Winter war, regnete oder die Sonne schien, egal, auf dem Markt, mit den Kisten voll gepanschten Wodka in den Händen, trug er immer dunkle Sonnenbrillen, weil er meinte, so würde ihn niemand erkennen.

Und tatsächlich erkannten ihn die Anderen nicht, sie trugen selbst Sonnenbrillen. Irgendwann beendete er den Wodka-Handel. Er konnte ihn nicht mehr bewältigen. Als seine Töchter 14 und 16 Jahre alt waren, lag er jeden Tag im Wohnzimmer auf dem Sofa, schaute Kampffilme an, schlief schnarchend und befahl drohend, man solle ihm etwas zum Essen zubereiten.

Ich bin nicht deine Sklavin, sagte die jüngere Tochter. Für ihre Frechheit bekam sie ab und zu eine ins Gesicht. Seither blinzelt sie, wenn sie anderen widerspricht, als ob sie immer noch einen Schlag erwarten würde. Wenigstens trinkt er nicht, sagte die Frau.

Er ist grob, aber manchmal lieb. Die Liebe kann auch grob sein. Wer schlägt, der liebt, so pflegt er immer zu sagen. Der Geschlagene solle sich freuen. Seine Lieblingsschimpfwörter sind „Arsch“ und „Scheiße“, die er meist ohne Ergänzungen verwendet, aber mit denen er auch je nach Laune Millionen von Variationen konstruieren kann. Er hasst die Russen (jetzt noch viel mehr). Er kann die Weißrussen nicht leiden, weil sie gehorsam sind, so wie die gierigen Polen oder die Moldawier, die ihre Nieren auf dem Schwarzmarkt verkaufen.

Er mag keine Juden, vor allem die nicht, die Geld haben oder an der Macht sind, auch wenn sie aus Georgien stammen. Sie sind trotzdem schlaue Juden, und die mag er nicht, fertig. Apropos Georgier, die mag er auch nicht, sie sind gefährlich. Er war nie im Ausland, aber er weiß alles. Auf Englisch kann er „How do you do?“, auf Deutsch „Hände hoch!“ sagen — das reicht. Er unterscheidet Patrioten nicht von Nationalisten und ist überzeugt, dass es sich um Synonyme handelt. Er spricht oft von der ukrainischen Würde, vielleicht deshalb, weil er seine männliche Würde längst nicht mehr besitzt. Er ist nicht schuld, aber wer spricht von Schuld? Er ist, wie er ist. Er trinkt nicht. Seine ältere Tochter heiratete mit 17, um von zu Hause wegzukommen (sie wird es aber nie zugeben, wenn jemand fragt).

Er ist ein normaler Ukrainer. Während Chruschtschows Herrschaft geboren, während Breschnews aufgewachsen. Brav studiert. Fleißig gearbeitet. Im Laufe der Orangenen Revolution hat er gehofft und während des Maidans erschrocken geschwiegen. Für Krieg ist er zu alt, für Demenz zu jung. Er überlegt vieles, trifft seltsame Menschen, mit denen er letzte Nachrichten von der Front und aus Kiew analysiert, sagt den Jungen, die er kennt, sie sollen sich vor der Armee nicht verstecken, denn was für ein Staat sei es, der sich nicht wehren könne? Wenn die Jungen bald im Sarg zurückkommen, schweigt er wieder oder sagt der Frau, sie solle scheißen gehen. In dieser Minute bedankt er sich bei Gott, an den er nicht wirklich glaubt, dass ihm nur Töchter gegeben wurden und keine Söhne. Er hat angefangen, nach Jahren wieder Kung-Fu zu trainieren, und versichert der kleinen Enkelin, dass er sich mit Gewehren gut auskenne. Er töte, wenn es notwendig sein wird, keine Frage, er bringe alle Feinde um. Und gleich dazu befiehlt er der Enkelin drohend, ihm etwas zum Essen zuzubereiten. Ich bin nicht deine Sklavin, antwortet das Mädchen ruhig und geht weg.

Jetzt, mit 62, lernt er kochen. Oft ist ihm bitter zumute. Vielleicht ist er derjenige, der ein Sklave war? Die Sklaven sind meistens grob den Schwächeren gegenüber. Sie müssen schlagen, um zu lieben, sie müssen schimpfen, um ihre Liebe zu beweisen. Eigene Furcht und Ratlosigkeit müssen verborgen oder gerechtfertigt werden. Sie erzählen antisemitische Witze, weil nur solche sie noch zum Lachen bringen, je derber, desto lustiger. Ewige S(k)lawen, 1991 wurden sie endlich freigelassen – und was haben sie mit ihrer Freiheit gemacht?

Er ist ein normaler Osteuropäer. Im Prinzip gut, nur ein wenig barbarisch. Sein Schicksal war es immer, am Rand der westlichen Zivilisation Wache zu halten und als Erster geopfert zu werden. Dafür war Intelligenz nie notwendig. Seine Sprache klingt klein und komisch und war erst vor hundert Jahren erlaubt. Seine Geschichte brachten ihm die Nachbarn bei. Er lobt sich ständig selbst, sonst hätte er das Gefühl, dass sein Leben nicht den geringsten Wert hat. Er lebt patriarchalisch und wiederholt, dass seine Frau im Erdgeschoss bleibt, während er in den neunten Stock hinaufgefahren ist. Aber als er hinauffuhr, musste die Frau Geld verdienen und sich um die Kinder kümmern. Für seine Höhe hatte sie keine Zeit. Sie redet selten mit ihm. Sie leben zwar zusammen, aber verhalten sich wie Fremde. Er trifft seltsame Menschen, sie sieht fern und pflegt die Topfpflanzen. Die Pflanzen wuchern. Er blickt sie an und sagt: Was für eine Scheiße.

Er ist ein Ukrainer. Er hat keinen eigenen Namen. So ist es am einfachsten. So ist es nicht wahr.

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