Das Relevanzdiktat dominiert die Kunst. Und wo sie keine politische Aufarbeitung betreibt, da soll sie bitte wenigstens Aufmerksamkeit erregen. Ist das wirklich sinnvoll?
Man fliegt um den halben Globus, landet auf einem fremden Subkontinent, Gedichte werden übersetzt. Die Autoren, die einem gegenübersitzen, haben eine Agenda. Nicht, dass man selbst keine hätte. Eine Agenda der Kunstfreiheit etwa, gespeist aus dem Gedankenraum europäischer Aufklärungstradition. Kants Idee der Nutzenfreiheit des ästhetischen Genusses, aufgegriffen und gespiegelt, wenn Luhmanns systemische Sozialmodelle der Kunst die Funktion der Funktionslosigkeit zusprechen.
Das Gegenüber schreibt Botschaftslyrik. Der soziale Ansatz ist aller Unterstützung wert: unterdrückte Ureinwohner, die Fortsetzung tausend Jahre alter Macht- und Beraubungsverhältnisse mit Hilfe europäisch-kolonialistischer Strukturen. Eingesetzt gegen sogenannte Kastenlose oder Frauen, deren Gesundheit und körperliche Integrität in großem Maßstab mit Füßen getreten werden. Poesie also, die versucht, Menschen eine Stimme zu geben, die mit dem Wort kaum umgehen können und gewiss nicht zu Wort kommen – sie leben in Slums, schlafen um den Fuß eines Verkehrsschildes gerollt, werden zum Sterben in einen Zug gelegt, weil niemand ihr Begräbnis bezahlen kann.
Relevanz? Gewiss.
Gewissensberuhigung für uns, und/oder sogar Voyeurismus, wenn man das übersetzt? Nicht auszuschließen.
Information und Berührung: hoffentlich.
Doch die Frage lautet: Wie übersetzen? Wie Sprache finden für diese Art von Sprachlosigkeit? Das ist hier nicht primär eine Frage der beim Übersetzen wirksamen kulturellen Reibungen. Es ist eine Frage der Direktheit. Der Poesie ohne Poesie.
Denn es liegt eine Verwechslung vor.
Dass Literatur nicht identisch damit ist, Aussagen zu machen, die man westlich-politisch-zeitgenössisch auf der Gut-Seite einordnen kann, ist ein Klischee. Dass ich es äußere, beruht auf einer Diskrepanz: man mag so denken, unterschreibt den Satz leichthin – und handelt ihm entgegen. Zunehmend klammern Institutionen und Veranstalter, Journalisten und Kritiker sich an der Relevanz des Kunst-Gegenstandes fest. Spiegelung, Mimesis, historische Aufarbeitung.
Wir sollten uns fragen, was wir wirklich erwarten. Kunst kann Ereignis sein, Spektakel, aufregend, laut. Doch leise darf sie ebenfalls auf uns zukommen, oder? Und auch subtil, komplex, intellektuell, intelligent? Als eine Herausforderung, die den alten Satz des docere et delectare, den man heute vielleicht besser umdreht in ein delectare et docere, nicht vergessen hat.
Wo also setzen wir an? Die Angst, in den Aufmerksamkeitsnetzen verschalteter, geld-und krisentaumelnder Bildgesellschaften zu kurz zu kommen, kann kein guter Berater sein. Ebenso wenig hilft ein schlechtes Gewissen, wenn es nicht gelingt, dem Partygegenüber die eigene Relevanz in zwei, drei Sätzen zu erklären.
Vor Kurzem sprach ich mit einem renommierten Neurowissenschaftler. Er erzählte mir, wie er um seine Grundlagenforschung kämpft. Denn auch sie sei nicht ausreichend relevant.
Da liegt er, des Pudels Kern. Der Pudel ist kein echter Hund: Er trägt Haare statt Fell. Ein literarisches Tier ist er zudem, wie man spätestens beim Osterspaziergang von Goethes Faust erfährt. An Faust 2 zu denken, kann hier überhaupt hilfreich sein. Das Stück zeigt eine Wissens- und Nützlichkeitsgesellschaft, die es in zahlreiche Aspekte aus- und zu Ende denkt.
Was Kunst also kann?
Am wichtigsten scheint mir die Antwort „nichts“.
Kunst kann das Nichts.
Kunst kann den Nichtnutzen.
Die Infragestellung, die Nichtbotschaft. Etwas wie Geheimnishaltigkeit. Den Freiraum: selbst empfindend-denkend wahrzunehmen, zu reflektieren, zu hinterfragen.
Still zu sein.
Und da wird sie sichtbar, die neueste Amalgamierung auf der anderen Seite der Medaille: die Verkunstung von Wirklichkeit. Nicht Künstlichkeit ist damit gemeint; in Zeiten der Genetik, Robotik, Digitalität und Implantation wäre das eine andere Frage. Verkunstung betrifft Inszenierungen von Wirklichkeit, etwa unseren Umgang im öffentlichen Raum mit Toten aus Flugzeugunglücken oder dem Untergang vollbesetzter Flüchtlingsboote. Was wir hier zu greifen bekommen, ist die Kehrseite des Relevanzdiktates, das auf die Kunst zugegriffen hat. Künstlerische Inszenierungsformen gehen nahtlos über auf das, was wir als Nichtfiktion zeigen. Totengedenken. Begräbnisse ohne Leichen. Menschenzüge.
Ist Kunst etwas, das Ersatzleben Einhalt gebietet?
An diesem Punkt konnten die indischen Botschaftsdichter und ich aus den deutschen Luxusverhältnissen uns treffen und austauschen. Die Zwänge und Denkfiguren, unter denen wir stehen, sind von sehr unterschiedlicher Art. Auch bei uns ist die Freiheit ein umkämpftes, ich sollte besser sagen umzingeltes oder umschlichenes Gut. Das ökonomische Diktat der Nützlichkeiten geht auf die achtziger Jahre zurück. Tief ist es in unsere Köpfe gekrochen. Die Frage nach Nützlichkeit ist berechtigt. Entscheidend wird sein, wie wir sie intelligent – aufheben.
Um einen anderen Begriff der deutschen Philosophietradition in Anschlag zu bringen.
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