Verständnis für die Unabhängigkeitsbestrebungen heißt nicht Einverständnis. Wenn die Katalanen nun versuchen, ihren eigenen Staat zu bauen, droht Spanien ein Trauerspiel.
Die Katalanen sind bekannt für ihren Hang zu masochistischer Gedenkkultur. Das Datum, an dem sie ihre politische Eigenständigkeit verloren, begehen sie als Nationalfeiertag. Und nun dies: Am 15. Oktober muss Artur Mas, derzeit katalanischer Regierungschef, auf die Anklagebank. Zur Last gelegt wird ihm ziviler Ungehorsam, was ja durchaus nach alter Volksheldentugend klingt.
Ein wenig Märtyrerflair wird ihn künftig auf jeden Fall umwehen, selbst wenn er nicht hinter Gitter kommt. Denn an ebendiesem 15. Oktober jährt sich zum 75. Mal die Hinrichtung von Lluís Companys. Companys war ein Amtsvorgänger von Mas, Ministerpräsident Kataloniens im Spanischen Bürgerkrieg. Nach der Niederlage der Republik ließ Diktator Franco ihn erschießen.
Nun ist Mas’ Termin bei der spanischen Justiz also eingebettet in lauter Akte zum Gedenken an diesen Mord und obendrein residiert der Gerichtshof, vor dem er aussagen muss, in einer Straße, die nach Lluís Companys benannt ist. Eigentlich kein schlechtes Finale für Mas‘ politische Karriere.
Artur Mas ist der President, der Katalonien in die Unabhängigkeit (manche nennen es Sezession) führen sollte. Ob er das auch wirklich wollte, ist eine unergiebige Frage. Vor fünf Jahren im Sommer stand er vor der Wahl, vom plötzlich zur Massenbewegung angeschwollenen Independentisme überrollt zu werden – oder sich an dessen Spitze zu stellen. Seitdem hat dieser Regierungschef von eher buchhalterischem Charme, Gewächs einer mäßig konservativen Partei, die es zum Thema Ausstieg aus Spanien zuvor stets bei feierlicher Rhetorik bewenden ließ, sein politisches Schicksal an den Traum vom eigenen Staat Katalonien gebunden.
Das Vergehen, für das er nun büßen soll, ist eine Art Placebo-Referendum über die Unabhängigkeit, das er Ende letzten Jahres abhalten ließ, obwohl die Regierung in Madrid und das ihr ergebene Verfassungsgericht es untersagt hatten.
Von jener Abstimmung redet heute allerdings fast keiner mehr. Schließlich hat es am 27. September Parlamentswahlen in Katalonien gegeben – mit „Plebiszitcharakter“, wie Mas und seine unwahrscheinlichen Bundesgenossen nicht müde wurden zu betonen.
Junts pel Sí, „Gemeinsam für das Ja“, nennt sich die Zweckallianz von Christdemokraten und Linksnationalisten, auf deren letztem Listenplatz symbolisch-glamourös Pep Guardiola kandidierte. Ein Erdrutschsieg sollte ihr den Weg bahnen zur Gründung des katalanischen Staates.
Die Independentistes haben die Wahlen ja tatsächlich gewonnen. Aber: Erstens erreichten sie zwar die absolute Mehrheit der Sitze, nicht jedoch der Wählerstimmen. Und zweitens schaffte Junts pel Sí auch das nicht alleine. Das Projekt Unabhängigkeit läuft, wenn überhaupt, nur zusammen mit der Anti-System-Partei CUP. Die wiederum bringt das Bündnis mit einer rabiat linken Agenda in Verlegenheit. Eine ihrer Bedingungen lautet: Mas wird nicht wieder Ministerpräsident. Dass er nun für genau das angeklagt ist, was die CUP als Gebot der Stunde ausruft – zivilen Ungehorsam gegen Gesetze aus Madrid –, wird sie kaum umstimmen.
Etwa zwei Monate bleiben noch, um eine Regierung zu bilden. So oder so stehen aber nach dieser Frist schon wieder Wahlen an: zum spanischen Parlament. Und wie die ausgehen, hängt nicht zuletzt davon ab, was unterdessen in Katalonien geschieht.
Mas und seine Unterstützer behandeln das Ergebnis vom 27. September wie einen Auftrag zur Staatsgründung. Den Einwand, dass es zur absoluten Stimmenmehrheit doch nicht gereicht habe, kontern sie mit dem Hinweis, ein Referendum habe Madrid ja verboten, und so gelte nun eben das Wahlrecht. Außerdem seien manche Wähler der anderen Parteien auch für die Unabhängigkeit.
Da fehlt eigentlich nur noch das Argument, dass bisher die wenigsten Staaten der Welt erst gegründet wurden, als fast 48 Prozent ihrer wählenden Bevölkerung dem zugestimmt hatten.
Seit Jahren haben ein parteiisches Verfassungsgericht in Madrid und die – vor allem innenpolitisch – heillos reaktionäre spanische Regierung unter Mariano Rajoy mit ständigen Provokationen und Demütigungen die Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien beispiellos befeuert. Dass sie jetzt trotzdem bei unter 50 Prozent landet, ist alles andere als ein Triumph. Bei der Frage nach dem Bruch mit Spanien bleibt die katalanische Gesellschaft zweigeteilt.
Ich war in den Tagen um die Wahl in Barcelona. In der Wut auf die Regierung Rajoy waren sich alle einig, aber bei den meisten kam Mas auch nicht viel besser weg. Wer nicht selbst für den „neuen Staat Europas“ glüht, wirft dem Präsidenten vor, dass er der Utopie die Gegenwart opfere. Weil die beiden Parteien seiner Koalition außer ihrem Wunschtraum wenig gemeinsam haben, regieren sie nicht gut. Dabei ist in Katalonien, wie im Rest Spaniens, die Krise alles andere als überstanden. Gerettet sind vielleicht die Banken, nicht aber die Bevölkerung. Vor allem die Kürzungen im Gesundheitswesen wirken sich katastrophal aus und das Mantra „Alles wird sofort besser, wenn wir unabhängig sind“ hat noch niemanden kuriert, hängt aber vielen zum Hals heraus.
Mich halten – in Deutschland, nicht in Katalonien – manche für einen Befürworter der katalanischen Unabhängigkeit. Das liegt daran, dass ich hier und da Verständnis für den Independentisme der letzten Jahre geäußert habe. Weil der eben nicht bloß eine Macke verblendeter Nostalgiker ist, sondern vor allem Reaktion auf die stur konfrontative Katalonienpolitik der rechten Regierung in Madrid. Dieses Verständnis für den Independentisme wird mit Einverständnis verwechselt.
Was ich mir wünschen würde, wäre die überfällige Verfassungsreform in Spanien: eine föderalistische Neuordnung anstelle des heutigen Zentralismus, bei der dann Katalonien und das Baskenland den Status von Freistaaten bekommen könnten.
Mit so einer Lösung wäre auch ein Großteil der Junts-pel-Sí-Wähler zufrieden. Bloß glauben sie nicht mehr daran. Und mit Rajoys Partei, dem PP, wäre sie auf keinen Fall möglich.
Genau deshalb hätte ich einen deutlichen Wahlsieg der Independentistes begrüßt. Damit wäre, allen Beschwörungen zum Trotz, dass es „kein Zurück mehr“ gebe, der Ausstieg Kataloniens keineswegs besiegelt gewesen. Das Votum hätte das politische Spanien per Schocktherapie zur Einsicht bringen können, dass es sich umbauen muss. Und es hätte den ohnehin von Korruptionsskandalen und von der auftrumpfenden Unfähigkeit seiner Spitzenleute zerrütteten PP in Madrid weiter geschwächt.
Aber: So sieht das Wahlergebnis eben nicht aus. Zudem hat es einen Shootingstar hervorgebracht, von dem bisher keine Rede war. Ciudadanos, Staatsbürger, nennt sich die junge Partei aus dem, nun ja, zumindest nicht linken Spektrum, die plötzlich zweitstärkste Fraktion im katalanischen Parlament ist. Wofür die Ciudadanos stehen, ist unklar. Die einen halten sie für etwas Neues, für eine moderne liberale Gruppierung, weltoffen und konstruktiv, ein Gegenbild zum politischen Klüngel in Spanien und Katalonien. Die anderen sehen in ihnen eine Ansammlung von Schnöseln, deren legerer Auftritt (Jeans und hochgekrempelte Hemdsärmel sind die inoffizielle Uniform der „C“-Funktionäre) nur eine frische Verpackung für eine ranzige Ideologie ist. Im Netz kursiert das Video eines Babys, das angewidert den Kopf wegdreht, als ihm ein Löffel Brei mit der Aufschrift „PP“ hingehalten wird, und ihn dann bereitwillig schluckt, als eine zweite Aufschrift – „C“ – die erste kaschiert. Als ich in Barcelona die Bilder von der Wahlparty der Ciudadanos sah, lauter enthemmte Hochgekrempelte, die ihre eigene Spitzenkandidatin mit „Catalunya es España!“-Sprechchören überbrüllten, hatte ich kein gutes Gefühl.
Wenn die Independentistes nun mit ihrer wenig soliden Mehrheit, ob mit oder ohne Mas, demonstrativ ihren „Routenplan“ zur Staatsgründung in Angriff nehmen, droht das bei den spanischen Wahlen das zentralistische Lager zu stärken. Schon jetzt ist die einzige politische Kraft im Land, die noch überzeugend für eine Verfassungsreform eintritt, Podemos; die Sozialdemokraten tun es im Prinzip auch, bloß gerät bei ihnen gerade gar nichts mehr überzeugend. Podemos-Kopf Pablo Iglesias sprach in der katalanischen Wahlnacht: „Ich möchte Präsident eines Spanien sein, in dem die katalanische Nation Platz hat.“
Doch vom Präsidentenamt ist er weit entfernt. Podemos schwächelt. Ihr Ableger in Katalonien fuhr ein einstelliges Ergebnis ein. Und für die spanischen Wahlen zeichnet sich ein Szenario ab, das bis vor Kurzem alle für undenkbar hielten, so tief, wie Rajoy die Karre in den Dreck gefahren hat: nämlich dass sich der PP, mit Unterstützung der Ciudadanos, doch an der Macht halten könnte.
Das würde vier weitere verlorene Jahre für Spanien bedeuten. Und für Katalonien vermutlich auch.
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