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Das Land muss sich selbst wiederfinden

 

In der gegenwärtigen Flüchtlingsdebatte wird viel von Werten geredet. Wenn die Fanatiker immer lauter schreien, sollten wir uns auf die Stärken unserer weltlichen, zweifelnden Denktradition besinnen.

„Irgendwann werde ich Bayern-München-Fan, / irgendwann mag ich Grönemeyer“. Mit diesen erbaulichen Zeilen ließ der Liedermacher Funny van Dannen einen Song beginnen, den er 2007 veröffentlichte. Der Song heißt Integrieren. Wenn Sie zwei Minuten erübrigen können, hören Sie sich ihn ruhig mal an. Zur Entspannung.

Natürlich erst, nachdem Sie diesen Text gelesen haben. Es ist ein Text über Werte. Über unsere und andere. Denn die Sorge um Werte ist es ja, die viele von uns umtreibt, wenn heute massenhaft Menschen aus der „islamischen Welt“ nach Europa, nach Deutschland flüchten. Sie kommen hierher und bringen knallharte Denkweisen mit. Längst nicht alle von ihnen, klar. Aber manche. Und da sie in siebenstelliger Zahl eintreffen, sind „manche“ schon eine Riesenmenge.

Religiöse Unduldsamkeit, rasender Antisemitismus, kein Schimmer von Frauenrechten, null Toleranz für Schwule, aggressiver Ehrbegriff, heillos autoritäre Gesellschaftsbilder: So, wird befürchtet, sieht das moralische Handgepäck der Neuen aus. Und dem habe unsere erschlaffte westliche Kultur nichts Standfestes entgegenzusetzen. „Die können wir unmöglich alle integrieren“ – das ist die auch unter Rot- und Grünwählern gängige Begründung für den beliebten Konter gegen die Kanzlerin: Nein, wir schaffen das nicht.

Und wie sollen wir es denn schaffen? Wie können wir mit einer weichen, abstrakten Formel wie „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ gegen den Absolutheitsanspruch von „Gott befiehlt“ antreten? Wenn jemand meint, die Religion unterscheide den Menschen vom Tier, wie sollen wir den vom säkularen Staat überzeugen? Wie sollen wir jemanden, der denkt, wer seine Frau nicht schlägt, sei ein Schwächling, und der unverschleierte Mädchen für ehrlos hält, für die Gleichberechtigung der Geschlechter gewinnen? Wie vermitteln wir grollenden Arabern, dass „die Juden“ nicht in eins zu setzen sind mit dem Staat Israel – und erst recht nicht mit den Zerrbildern von Israel, mit denen sie, die Araber, vielleicht von Kindheit an indoktriniert wurden?

Das sind Fragen, die man ja wohl noch stellen darf. Und die man dann ja wohl auch versuchen soll zu beantworten. Die Angst, wir hätten uns mit der Willkommenskultur einen Massenzulauf an Fanatikern eingehandelt (quasi lauter orientalische Pendants zu unseren AfD-Sympathisanten), halte ich als Gutmensch natürlich für aufgebauscht. Doch wenn wir über Werte reden wollen, kann so ein Schreckensbild uns helfen, deutlich zu werden.

Uns drohen demnach lauter Absolutheiten. Die revolutionäre Geistesbewegung, aus der sich das moderne „Abendland“ gebildet hat, war aber doch der Abschied vom Absoluten. Der Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit, wie Kant so hübsch sagte. Die Lizenz zum Selbstdenken, die Ermächtigung, die eigenen Geschicke in die Hand zu nehmen. Das war weit mehr als nur der Abschied vom Absolutismus als politischem System und der Weg zur parlamentarischen Demokratie. Es war in allem menschlichen Handeln und Grübeln die Abkehr vom Dogma, vom Unumstößlichen. Die Erkenntnis, dass jedes „Gott befiehlt“ bei genauerem Hinsehen auf ein „Es wird behauptet, dass Gott befiehlt“ zusammenschrumpft. Die Ansicht oder Einsicht, dass die Regeln, nach denen wir leben, nicht vorgeschrieben, sondern auszuhandeln sind. Die große Freiheit und ebenso große Verantwortung eines neu begriffenen „Wir“: als mündige Gesellschaft statt als blinde Gefolgschaft.

Seltsamerweise wird Relativismus in sozialen Debatten als Schimpfwort gehandelt. Meist ohne weitere Erklärung, denn eine solche würde schwerfallen. Nicht umsonst arbeitet sich die Philosophie an dem Thema schon ab, seit die alten Griechen feststellen mussten, dass auch die „Barbaren“ Wertesysteme hatten. Denn Relativismus heißt ja nicht, es gibt keine Werte, sondern bloß, es gibt keine absoluten Werte. Und die Gefahr dieses Denkens liegt nicht darin, dass eingestanden relative Werte schwächer wären als eingebildet absolute Werte – sondern darin, dass man sie für schwächer hält. Weil ihr Bezugspunkt kein Gott oder Popanz ist, sondern dieses unübersichtliche, unbändige Phänomen, das wir Menschheit nennen.

Wir brauchen die höchste Instanz, sonst schlagen wir uns bloß die Köpfe ein: So argumentieren die, die am Absoluten festhalten wollen. Dabei setzen sie voraus, dass uns, wenn wir auf die höchste Instanz verzichten, bloß auch wieder das Absolute heimsucht – in seiner Rohform als Recht des Stärkeren, das beim Köpfe-Einhauen obsiegt. Die große Errungenschaft des Abschieds vom Absoluten ist aber, dass er das Recht des Stärkeren durch die allgemeinen Menschenrechte ersetzt hat. Und eben das bleibt die große Herausforderung an unsere Gesellschaft: die Menschenrechte an die Stelle der höchsten Instanz zu setzen. Auch im Umgang mit Flüchtlingen (egal, was für Absolutheiten sie mitbringen). Und beim Integrieren.

„Die Ankunft von einer Million Flüchtlinge[n] zwingt Deutschland, sich neu zu erfinden“, titelte kürzlich das Philosophie-Magazin. Klingt beängstigend, oder? Sich neu zu erfinden fällt doch sowieso verdammt schwer, wenn man nicht gerade Madonna oder David Bowie ist – aber dann auch noch zwangsweise? Da kriegen wir die Krise, die Flüchtlingskrise.

Seit wir, als modernes Abendland, begonnen haben, uns das Absolute abzugewöhnen, und damit unsere Angst nicht mehr ohne Weiteres als Gottesfurcht verbrämen können, haben verschiedene Fetische die Stelle der höchsten Instanz gekapert, von denen „Nation“ und „Rasse“ die mörderischsten waren. Diesen Fetischen nicht wieder zu verfallen, ist der härteste Teil der Herausforderung, vor die uns die sogenannte Flüchtlingskrise stellt. Die Angst ist allzeit bereit und lässt sich nie lange bitten: die Angst vor dem leeren Himmel, vor unserer Verantwortung füreinander. Der Protest gegen Willkommenskultur und angeblich ungesicherte Grenzen speist sich aus dieser Angst. Er münzt sie um in Ressentiment, in Hass auf das Fremde, in Fantasien, auf Kinder zu schießen. Die Angst nimmt Gestalt an im fratzenhaften Auftritt der AfD-Frauen Petry und von Storch oder in der Goebbels-Mimikry ihres Kollegen Höcke. Angesichts solcher Gespenster muss das Land sich nicht neu erfinden, sondern sich erst einmal dringend wiederfinden.

Integrieren also. Integrieren ist furchtbar aufwändig, und die Ankunft der Million bringt nicht zuletzt ans Licht, wen alles wir außer den Flüchtlingen noch zu integrieren hätten. Die Bescheidwisser aus den Foren schreiben gerne: „Man schaue nur einmal auf die sozial abgehängten Stadtteile im Ruhrgebiet, und schon sieht man, wie schwer es mit der Integration von Muslimen ist.“ Oha. Und man schaue auf die Nazidörfer im Osten oder auf die derzeit durchschnittlichen drei Angriffe pro Tag auf Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland, da sieht man, wie schwer es mit der Integration von Nicht-Muslimen sein kann. Und wie war das doch gleich mit den Russlanddeutschen? Oder man schaue noch einmal – nun ein wenig genauer – auf die „sozial abgehängten Stadtteile“: Gibt es Hartz-IV-Gettos etwa nur da, wo besonders viele Muslime zu integrieren sind? Wie kommt es dann, dass die viel zitierte „Unterschichtsstudie“ der Friedrich-Ebert-Stifung schon vor zehn Jahren auf die Zahl von sechs Millionen Menschen kam, die in unserer Gesellschaft von der Integration faktisch ausgeschlossen sind und zu diesem Zweck sogar einen eigenen Gruppennamen erhalten haben: das Prekariat? Sechs Millionen. Darunter ein kleiner Anteil Muslime.

Wenn einer Gesellschaft sechs Millionen ihrer Bürger gleichgültig sind, klingt der Ruf „Wir können die Flüchtlinge nicht integrieren!“ so verlogen, wie als sich nach den Übergriffen in der Silvesternacht Pegida-Demagogen plötzlich als Frauenrechtler aufspielten. Wo Werte nur simuliert werden, braucht man mit Integration oder deren angeblicher Unmöglichkeit gar nicht anzukommen.

Wo man aber auf – abendländische – Werte wirklich noch etwas gibt, wo Integration also nicht bloß wohlfeiles Gerede ist, wird man auch den Fundamentalisten unter den Flüchtlingen geduldig vermitteln, dass Religion hier Privatsache ist und dass auf dem geflügelten Wort vom Alten Fritz, „hier muss ein jeder nach seiner Fasson Selich werden“, diese ganze Republik gründet; inklusive ihrer Ungläubigen, ihrer emanzipierten Frauen und ihrer Homosexuellen. Man wird das Beispiel des Duisburger Vereins Offene Jugendarbeit dankbar ausweiten und für die oft mit Hetze gegen Juden aufgewachsenen jungen Muslime Fahrten zu den KZ-Gedenkstätten organisieren (ja, das hilft). Und vielleicht wird man statt über Parallelgesellschaften über Parallelen sprechen: zum Beispiel zwischen dem Prinzip „Der Mensch nimmt sein Schicksal selbst in die Hand“ und der Art, wie Menschen auf der Flucht vor Krieg oder Verfolgung ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.

Sprachkurse, Wohnungen, Lehrer, Sozialarbeiter – natürlich wird das kosten, vielleicht gar knapp zwei Prozent der jährlichen deutschen Wirtschaftsleistung, wie einige Institute kürzlich errechnet haben. Glaubt man den Mittelstandsvereinigungen, wäre dieses Geld allerdings gut angelegt. Und weit weniger als bei der Bankenrettung wird es selbst dem teuersten Szenario nach sein. Ökonomisch gesehen ist „Wir schaffen das nicht“ also auf jeden Fall gelogen. Sozial und kulturell wird es davon abhängen, was uns „diese Menschen“ (so lautet ja die quer durchs politische Spektrum gängige, zugleich Distanz und Verantwortungsbewusstein ausdrückende Formel, um die Flüchtlinge zu bezeichnen) wert sind – und was uns unsere Werte wert sind. Gerade wenn angesichts einer gesellschaftlichen Großaufgabe immer lauter die Fanatiker tönen, die Rassisten und die Alarmisten, ist es wichtig, uns auf die Stärken, auf die integrative Kraft der weltlichen, zweifelnden, empathischen Denktradition zu besinnen, die mit dem Abschied vom Absoluten ihren Anfang nahm.

Ach ja: Und freundlich sollten wir sein. Zu den Neuen. Wie zu allen Menschen, die selbst nicht unfreundlich sind (auch wenn Deutschland sich dafür tatsächlich neu erfinden muss). Freundlichkeit ist die beste Voraussetzung fürs Integrieren, weiß ja eigentlich jeder. Mut zur Freundlichkeit ist Mut zur Freiheit. Zur Offenheit. Abschottung ist ein Reflex der Angst, Offenheit ein Ausweis von Mut, Freundlichkeit ein Signal von Offenheit. Und nein, Freundlichkeit heißt keineswegs Schwäche oder Schönfärberei. Auch Freundlichkeit kann die Mittel des Rechtsstaats ausschöpfen, wenn nötig. Etwa (willkürliches Beispiel) bei Angriffen von Islamisten auf Christen in Flüchtlingsunterkünften. Und freundlich zu sein ist nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit „Kommt alle zu uns“ oder „Alle, die kommen, können bleiben“. Das ist ein anderes Thema. Aber auch zu Menschen ohne „gute Bleibeperspektive“ sollten wir freundlich sein.

Und nun lasst uns das Funny-van-Dannen-Lied hören. Für eine heilsame Dosis Nabelschau und Integrationskritik. Zur Entspannung.