Nur die Siesta kann den Kontinent vor der grassierenden aggressiven Vertrottelung bewahren. Spanien soll sich zu diesem segensreichen Kulturgut bekennen, anstatt sich dafür zu schämen.
Haben Sie es auch gehört? Überall wird gerade das Ende der Siesta ausgerufen; Schockschwerenot! Verursacher der Hiobsbotschaft war Mariano Rajoy, auch das Stück Holz genannt, Spaniens amtierender Ministerpräsident und Vorsitzender einer zutiefst korrupten Partei. Rajoy hat … doch bleiben wir noch kurz bei seiner korrupten Partei. Der ist es soeben gelungen, bei den wegen Nichtzustandekommens einer Regierung wiederholten spanischen Parlamentswahlen abermals stärkste Kraft zu werden.
Wen da nicht bleierne Müdigkeit anwandelt, der wacht gerade erst auf. Zumal auch beim zweiten Urnengang keine brauchbaren Mehrheiten zustande kamen, sich bereits leise ein dritter aufzudrängen beginnt und schon diesmal bloß die Hälfte der Stimmberechtigten überhaupt mitwählte. Wer aber glaubt, das liege daran, dass die andere Hälfte es mit der heiligen Mittagsruhe am 26. Juni derart übertrieb, dass sie die Öffnungszeiten der Wahllokale verpennte, der irrt. Denn die meisten Spanier machen gar keine Siesta. Schon 2009 belief sich der Anteil derer, die sich täglich ein Nickerchen gönnten, auf gerade mal 16 Prozent (im Vergleich, zum Beispiel, zu 34 Prozent der US-Amerikaner). Und nach wie vor dürfte er weit unterhalb der Arbeitslosenquote liegen.
Das weiß auch Mariano Rajoy. Und er hat im Lauf seiner politischen Karriere schon viel Mist verzapft, aber das mit der Abschaffung der Siesta hat er nicht gesagt. Gesagt hat er lediglich, er strebe an, dass Spanien von der deutschen in die britische Zeitzone zurückkehrt (der Diktator Franco ließ anno 1942 die Uhren im Land zu Ehren der befreundeten Nazis um eine Stunde vorstellen; dabei ist es bis heute geblieben) – und dass der normale spanische Arbeitstag künftig um 18 Uhr enden solle. Markige Worte im Wahlkampf; gähn.
Die Schlagzeile Schluss mit der Siesta! hat die britische und deutsche Presse daraus gemacht. Denn die Siesta, so liest es sich in einem dpa-Artikel, der in den Tagen vor der spanischen Wahl von Welt bis Handelsblatt verbraten wurde, „gehört zu Spanien wie Paella und Flamenco“ – sprich, die Siesta gehört zu Spanien wie Lederhose, Marschmusik und die Lust am Klischee zu Deutschland gehören (nicht aufregen, liebe Experten im Forum: Das war ironisch gemeint). Dass die Spanier sich zwanghaft oder gezwungenermaßen mittags zur Ruhe legen, ist ein hartnäckiges Märchen. Wem es schwerfällt, den Glauben an eine staatlich verordnete Siesta abzulegen, der vergewissere sich unter Artikel 34 des spanischen Arbeitsgesetzes.
Zu den Gründen für den dennoch seltsamen Tagesablauf in Spanien kommen wir weiter unten im Text, falls wir bis dahin nicht eingeschlafen sind. Und nein, einschlafen würden wir nicht, weil der Text so verschnarcht wäre, sondern weil wir chronisch übermüdet sind. Wir alle. Als Gesellschaft.
Die Symptome von Schlafmangel sind bekannt: Man wird reizbar, wehleidig, menschenscheu, unausstehlich. Urteilskraft und Empathiefähigkeit gehen gemeinsam in den Keller, und im fortgeschrittenen Stadium beginnt man Gespenster zu sehen. Vor allem wenn etwas Ungewohntes passiert, ist man sofort stinksauer und gewaltbereit.
Ebenfalls bekannt ist, dass es dem Deutschen niemals einfiele, eine Siesta zu halten. Der Deutsche steht spätestens um sechs in der Frühe frisch gescheitelt auf der Matte, er marschiert durch seinen Arbeitstag mit maximal halber Stunde Mittagspause, in der er zu Tisch geht. In der Regel macht er noch ein paar Überstunden, um Exportweltmeister zu bleiben und dergleichen. Und abends versackt er mindestens bis Mitternacht im Internet, um sich die neuesten Verschwörungstheorien anzueignen.
Für diesen gnadenlosen Rhythmus des Digitalzeitalters aber ist der Volkskörper zu verweichlicht – vor allem in Gegenden, wo er seit Generationen im selben Genpool schmort. Der Schlafmangel lässt also nicht nach: Mitsamt seinen Symptomen wird er zum Normalzustand. Und schon ist es kaum noch absonderlich, wenn der Deutsche sich in einer „Merkel-Diktatur“ wähnt, wenn er finstere Machenschaften zur Abschaffung des Bargelds wittert, oder wenn er angesichts von Notlagen, die ihn selbst allenfalls sekundär betreffen – etwa wenn Menschen in sehr großer Zahl vor Krieg und Verfolgung fliehen und „bei uns“ Schutz suchen –, in Panik und Beißreflexe verfällt, den Untergang des Abendlands herbeihalluziniert und jeglichen Anstand einbüßt.
Kürzlich schrieb mir zum Beispiel ein besorgter Bürger folgende Zeilen (Rechtschreibung und Grammatik sind respektvoll im Originalzustand belassen): „Für mich sind Sie ein mieser, kleiner Brandstifter, von der ganz linken und hinterfotzigen Art. Sie klinken sich in der derzeit aktuellen Mainstream (antideutsch und pro schmarotzerische Zuwanderer), um Ihre dümmlichen, arroganten und ketzerischen Schmiereien zu verbreiten. Wenn es nach mir ginge, würde man Schleimbeutel wie Sie aus dem Land prügeln!“
Nun. Natürlich möchte man ihm entgegnen: Tut mir leid, aber wenn es wirklich nach Ihnen ginge, dann gäbe es gar kein Land, aus dem man Schleimbeutel wie mich hinausprügeln könnte, sondern bloß ein zivilisationsloses Kuddelmuddel von rasenden Trollen, die auf alles eindreschen, was sie nicht kapieren und was nicht den gleichen Mief verströmt wie sie selbst. Doch nein, ich erwidere: Mein Herr, probieren Sie es mal mit einer Siesta.
Obwohl, eine Siesta würde in Ihrem Fall bei Weitem nicht ausreichen. Würde in dem Moment, da Sie nach ihrem Nickerchen die Augen öffnen, jemand: „WO STEHT DER FEIND?!“ brüllen, Sie würden zurückbellen: „LINKS! LINKS! LINKS!“, und gleich wieder losstampfen, mit der Pegidafahne im Schritt. Was Sie und so furchtbar viele andere bräuchten, wäre eine ausgiebige Schlafkur.
Wenn das die Spanier wüssten. Die Spanier mögen nämlich auch Klischees, und sie haben ein seltsames, oft rührendes Bild von Deutschland. Sie glauben, in Deutschland seien die Züge pünktlich, die Menschen ziemlich vernünftig und obendrein erstaunlich zungenfertig, weil sie Wörter wie „Quarkhörnchen“ aussprechen können. Überhaupt das deutsche Essen: Zu Recht lässt dem Spanier die Bratwurst keine Ruhe, und besonders schön fand ich sie einmal an einem Imbissstand in Barcelona angepriesen, nämlich als „Wratswurg“.
Ebenfalls in Barcelona kam ich einst regelmäßig am Eingang einer längst stillgelegten Sauna namens „Sauland“ vorbei. Der Name war passender, als man denken mag, denn hinter dem Etikett „Sauna“ verbargen sich zur Zeit der Franco-Diktatur die offiziell verbotenen Bordelle. Und ebenfalls unter Franco wurde der berüchtigt seltsame spanische Tagesablauf eingeführt, der bis heute in der deutschen und britischen Presse den Siesta-Mythos blühen lässt.
Damals, in den kargen Jahren nach dem Bürgerkrieg, mussten viele, um über die Runden zu kommen, in zwei Jobs arbeiten, oft an verschiedenen Enden der Städte. Also wurde eine frühe Schicht bis 14 Uhr angesetzt und eine späte ab 16 Uhr, und auf diese Weise entstand die Mittagslücke. Wer mir das nicht glaubt, kann es ausführlicher, allerdings auf Spanisch, in einem hübschen Artikel der konservativen Tageszeitung El Mundo nachlesen.
Heute gilt die – wie wir nun wissen, keineswegs mit Siesta angefüllte – Mittagspause in Spanien als ebenso sinnlos, wie der entsprechend späte Schluss des Arbeitstages (klassischerweise um 21 Uhr) als Zumutung gilt. Dass weite Teile des Einzelhandels trotzdem bis heute daran festhalten, kann man beknackt finden. Andererseits hält ja auch eine Mehrheit jener Wahlberechtigten, die sich in Spanien noch zu den Urnen schleppen, daran fest, für die Kleptokratenpartei des hölzernen Herrn Rajoy zu stimmen. Wer übermüdet ist, schafft es eben nicht mehr, sich eines Besseren zu besinnen. Und übermüdet sind sie, die Spanier. Noch mehr als die Deutschen. Schließlich schlafen sie, so sagt die Forschung, am wenigsten von allen Europäern.
Trotzdem haben sie sich keine Rechtspopulisten ins Parlament geholt; damit sind die Spanier in Europa ja inzwischen die große Ausnahme. Wobei viele sagen, der vor allem innenpolitisch stramm reaktionäre Kurs der Regierung Rajoy komme dem Franquismus schon empörend nahe. Vielleicht liegt es nur daran.
Ein fatales Signal ist jedenfalls das allgemeine Siesta-Bashing, hier wie dort. Studie um Studie weist nach, wie gesund ein Mittagsschläfchen ist; und welch katastrophale Folgen die Übermüdung der europäischen Gesellschaften hat, sehen wir, wohin wir auch blicken. Da wählen sich die Briten somnambul, nur noch von einem Gemisch aus Ressentiment und Restalkohol auf den Beinen gehalten, versehentlich aus der EU hinaus. Da unterläuft es den Österreichern, weil nicht einmal mehr der stärkste Einspänner sie aus ihrem morbiden Dämmerzustand reißt, dass ein fescher Protofaschist sich bei ihnen Hoffnungen aufs höchste Staatsamt machen kann. Und von Ungarn und Polen bis Dänemark und Schweden wird wieder nationale Pampe angerührt, als wären die Köpfe schon so zerrüttet, dass als einzige Gedankenregung noch der kleingeistige Größenwahn von vor hundert Jahren funktioniert.
Also. Wir müssen in ganz Europa die Siesta einführen, die Zeit drängt! Wir müssen für sie werben, sie vorleben, sie gesellschaftlich durchsetzen. Nur die Siesta kann den Kontinent vor der grassierenden aggressiven Vertrottelung bewahren. Spanien, bekenne dich zu diesem segensreichen Kulturgut, anstatt dich dafür zu schämen! ¡Reclámala! Reclaim it! Spread the word! Bis uns allen, vom Nordkap bis Zypern, die Augen aufgehen und dann sogleich zufallen. Bis auch diejenigen, die sich, ganz tüddelig vor lauter insomnia, in völkische Borniertheit, Paranoia und grölende Hasenfüßigkeit verirren, endlich ihr Schlafdefizit aufgeholt haben und in der Wirklichkeit von heute erwachen.