Diese Zeiten, die wir unmittelbar erleben, machen einen gigantischen Lärm, man hört sie, man riecht sie, man spürt sie. Was sollen wir dagegen tun?
Im Ukrainischen sagt man hören und meint spüren oder riechen. Wenn man also fragen will: „Spürst/riechst du das auch?“, sagt man: „Hörst du das auch?“ Man sagt: „Wie hörst du dich?“ Oder auch: „Ich höre den Geruch deiner Füße.“ Als ich eine Zeit lang mit meinen deutschsprachigen Freunden so redete, lachten sie gutmütig: „Hörst du aus der Küche nicht, dass die Torte im Ofen brennt?“ Wäre die Torte in der Folge nicht verbrannt, hätte ich beim Nachtisch sagen können: „Hört ihr Lavendel heraus?“ Eigentlich umfasst das wunderbare Wort hören im Ukrainischen auch schmecken. Eigentlich alle Sinne außer sehen. Die Ukrainer hören am besten, unser Körper ist ein großes Ohr (was uns selbst jedoch selten hilft). Heute schmerzt das Ohr wie verrückt.
„Hörst du die neuen Zeiten kommen?“, frage ich meinen Nachbarn Herbert, der seit Geburt, weil er schlecht sieht, sehr gut hören kann. Er hört, wie die Mäuse draußen ängstlich die Straße überqueren. Er hört, dass die lästigen Tauben aus der Umgebung die Absicht haben, auf seinem Balkon zu landen. Um die Tauben fernzuhalten, band Herbert ans Gitter, wo man normalerweise Blumentöpfe befestigt, drei leere Müllsäcke. Sie rascheln leise und schaukeln im Wind, während Herbert auf dem Balkon morgens tief und glücklich einatmet, als ob er in einem Fünfsternehotel erwachen würde. Sobald er in die Wohnung hineingeht, sind die Tauben auf dem Geländer. Die Müllsäcke schrecken sie nicht ab.
„Was meinst du damit?“ Herbert ist gewöhnt, dass ich mich wie jeder Ausländer etwas unklar ausdrücke. Wobei er sehr gut hört, vertraut er seinen Ohren wenig und sucht besser nach rationalen Beweisen. Er surft ständig im Internet (einen Fernseher hat er nicht) und liest höchst aufmerksam alle Nachrichten, hält Wache sozusagen. „Péter Esterházy ist tot!“, rief er aus, „Putsch in der Türkei!“, hier war er schneller als die Türken selbst. „Deine freigelassene Pilotin Sawtschenko“, deine sollte hier darauf hinweisen, dass ich mir bezüglich ihrer Gefangenschaft in Russland große Sorgen gemacht hatte, „sie will also Präsidentin werden und eine Diktatur errichten. Wie peinlich.“ Nur über den Amokläufer in München verlor Herbert kein Wort. In diesem Augenblick hörte er die neuen Zeiten kommen — voller Unsicherheit, Angst und Geschrei der unschuldigen Toten.
Diese Zeiten, die wir unmittelbar erleben, machen einen gigantischen Lärm, man hört sie, man riecht sie, man spürt sie, man schmeckt sie heraus. The Noise of Time — so heißt der jüngste Roman meines Lieblingsautors Julian Barnes. Ihm geht es anscheinend genauso. Der Lärm der Zeit ist unerträglich geworden, weil man die Vergangenheit nie gehört hat.
Bis jetzt blieb die Vergangenheit in der Stille der alten Fotos. Wir können uns leicht vorstellen, wie das weit entfernte Jahr 1910 aussah, dazu braucht man nur ein paar Klicks in Google, und schon beobachten wir die leeren gepflasterten Straßen mit einem der noch seltenen Autos, oder eine altehrwürdige Straßenbahn, und durch das Seitenfenster eine junge Blumenverkäuferin. Wir betrachten die Pracht der Metropolen und das Elend der Kolonien (aus einer solchen stammt auch meine Familie). Wir erfahren sofort, wie die Menschen sich kleideten und welche Gesichter sie hatten. Allerdings bewahren all diese Gesichter erstaunliche Ruhe, sie sprechen nicht an, sie sind stumm.
Wir haben nicht die geringste Ahnung, wie das Jahr 1910 klang. Und ob es klang! Der ganze Lärm von Militärausrüstung, neuesten Panzern, Flugzeugen und Waffen, die man zum Beispiel in jeder Ausgabe der damaligen Österreichischen Illustrierten Zeitung gut sehen kann, verweilt hinter einer schalldichten Kulisse im tiefsten Vergessen. Fotos von stolzen Weltherrschern und begeisterten Soldaten bei machtdemonstrierenden Militärparaden bis zum Jahr 1914 sinken hinab in die Stille, als ob jemand den Sound weggenommen hätte. Es ist bekannt, was mit Stolz und Begeisterung nachher passierte, was sie verursachten. Das blutige zwanzigste Jahrhundert. Jetzt bricht diese bequeme Stille der Vergangenheit nieder. Das Bekannte wird vergessen, das Vergessene rückt in die Realität.
„Wir leben zurück“, stelle ich erneut unklar fest. Herbert und ich treffen uns gerade auf dem Weg zum Supermarkt. Wir schauen die Passanten haargenau an und halten schützend die Hand vor die Brust, wenn ein Auto zu schnell vorbeifährt. Wir zucken zusammen, wenn jemand irgendwohin rennt. Wir haben kein Vertrauen mehr und auch nichts dagegen, dass fast immer die Nationalität der Täter in den Nachrichten erwähnt wird. Wir möchten wissen und hassen.
„Zurückleben ist nicht möglich“, erwidert Herbert verzagt. Im Supermarkt kauft er Käse für sich und Müllsäcke für die Tauben, weil die alten auf dem Balkon vom Wind abgerissen wurden. Seine Familie stammt auch aus einer Kolonie. Sein Großvater floh, um zu überwintern, wie ein Zugvogel hierher und vergaß den Heimweg. Nach einer Stunde bindet Herbert neue „Waffen“ am Balkongitter fest und versteckt sich zwinkernd in der winzigen Sozialwohnung. Müllsäcke rascheln verführerisch und melancholisch. Unverzüglich landen die Tauben auf dem Geländer. Sie hatten nur darauf gewartet, denn es ist ein immerwährendes Spiel. Herbert taucht mit einem großen Besen wütend auf, um sie zu erschlagen, dennoch erfolglos. Alle Tauben fliegen auf meinen Balkon herüber und blicken ihn von dort an.
„Die Nervensägen“, brummt Herbert zufrieden und verschwindet im Internet. Seine Abneigung ist seine Liebe. Seine Stille ist nicht mehr da. Neue Zeiten rutschen voran.