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Halb taub? Ich sehe noch gut!

 

Immer mehr alte Menschen sitzen am Steuer. Ob sie ihr Auto und den Verkehr noch beherrschen, fragt niemand. Übernehmen wir endlich die Verantwortung.

© Photobac/shutterstock.com
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Im August fuhr ich durch Deutschland. Ich fuhr vor allem durch den Süden. So viele dicke Autos, die so langsam unterwegs waren, hatte ich noch nie gesehen. Was war während meines Jahres in England passiert? Einbruch der Autoindustrie in der Folge der VW-Krise, generelle Geschwindigkeitsbeschränkung nun auch auf der deutschen Autobahn? Die Schweizer Bekannten einer Bekannten mit dem 370-PS-Zweitwagen in der Zürcher Tiefgarage, den sie nur für Nachtfahrten auf der deutschen Autobahn von seiner samtschwarzen Haube befreien, taten mir nicht leid.

Doch falsch, ganz falsch. Kein Gesetz war geändert. Man durfte dahinbrausen, und man brauste dahin: Sommer 2016. Die Autobahn nach Garmisch war voll wie immer. Motorräder jeder Art, vor allem laut und tiefgelegt; Cabrios jeder Art, weitere „Schlitten“. Bayern, wie es lebte und bebte. Der Himmel riesig, das Land darunter – alt.

Der Stau war ein Manövrierstau. Der Ort ein Ort unter vielen. Hauptstraße, parken, einkaufen. So viele Menschen über 80 am Steuer hatte ich noch nie gesehen. Was machten eigentlich ältere Engländer? Waren sie zu arm für Autos dieser Art? Oder so reich, dass sie sowieso einen Chauffeur beschäftigten?

Der Mann mit Baseballkäppi, zwei Walkingstöcken, die er als Krücken benutzte, die linke Schulter 20 Zentimeter tiefer als die rechte, stellt sich beim Bäcker vor mir in die Schlange. Die alte Dame, weiße Haare bis zur Taille, Schleifchen, Pferdschwanz, Wolljacke im Norwegerstil, Blümchenrock, alles sauber, aß exakt ein Minibrötchen mit einer Riesenportion Butter. Den Kaffee schlürfte sie, immerhin geräuschlos, aus der Tasse, ohne die Tasse zu heben. Eine Mutter saß ebenfalls da, das Kind, das sie stillte, halbdunkel, neben sich die ältere Tochter, die ihr fast in die Brust kroch, und die Oma, eine frisch aussehende Sechzigerin, die das Verhalten der Enkelin namens Leonie nicht aushielt. Vernehmliches Schlürfen nun von links, während der Krückenherr rechts von mir halb auf meinem Rucksack saß, vor Zutraulichkeit. Ich fand die Aprikosen-Quark-Mischung an seinem Mundwinkel nicht ganz so heimelig. Das Buttermanöver links wurde ohne Unglück vollendet. Der alte Herr, der inzwischen an der Theke einkaufte, verkniff sich den Pflaumenkuchen, „zu viele Kalorien“, und nahm Hefegebäck vom Vortag.

Angst vor Entmündigung

Sie alle, wir alle, waren mit dem Auto da. Ein mir nicht unvertrauter 86-Jähriger hat vor Kurzem auf der Autobahn noch den Reifen gewechselt. Seine Freunde sind bei einem Bergausflug (Autobahn Garmisch) auf die falsche Auffahrt geraten, haben aber bemerkt, dass sie gleich Geisterfahrer werden und – gewendet. Glücklicherweise hatte der Mensch, der die Ausfahrt genommen hatte, bereits gut abgebremst und traf nur den hinteren Teil des wendenden Wagens. Totalschaden. Die beiden Ausflügler kamen mit dem Schrecken davon. Der Fahrer von damals fährt seither nicht mehr.

Mein Bekannter sitzt tief hinterm Steuer. Er hört extrem schlecht. Das Auto ist alt. Kein Navi, keinerlei Warnsystem. Das Auto sammelt Beulen.

Alle drei sind gegen Kontrollen der Fahrtüchtigkeit ab einem gewissen Lebensalter. Der Bekannte: „Halb taub? Ich sehe noch gut!“

Die Beulen in seinem Wagen sieht er nicht. Es fällt nicht auf, dass er schlecht fährt, weil alle anderen ja auch so fahren.

Sie haben Angst. Vor der Unfreiheit, der Entmündigung, der Einschränkung ihres schon eingeschränkten Radius. Ich verstehe das so gut, mir ginge es nicht anders. Aber ich habe ebenfalls Angst. Alle im Wagen meines Bekannten haben Angst, wenn er am Steuer sitzt. Nur er scheint nichts zu spüren.

Was ich ihm nicht glaube. Er ist im Stress. Nach der gelungenen Fahrt ist er stolz. Nichts davon möchte ich ihm nehmen; dennoch bin ich für eine Überprüfung. Physisch und mental. Ich bin für Hilfe. Sehe die Not – auf beiden Seiten. Einfach ist das nicht. Wie behandelt man alte Menschen mit Respekt?

Die Brötchentüte manövrieren

Ein alter Mann, fein gekleidet, auffällig blass, sitzt im Café. Er isst seinen Marmorkuchen mit der Gabel, achtet darauf, nicht zu krümeln. Es rührt mich, wie sorgfältig er ist. Er hat ein Täschchen abgestellt. In dem Täschchen steckt das Alter, es ist ein Herrentäschchen, wie man es kaum mehr sieht. Daneben liegt ein geblümter Beutel für die Brötchen.

Wie kommen wir zu der richtigen Mischung aus Respekt und Sorge? Aus Akzeptanz der persönlichen Freiheit und Einschätzung der Kompetenzen?

Und wie wird das für uns sein? Unsere Lebenserwartungen sind exorbitant, zumindest im Vergleich zu all jenen Zeiten, die hinter uns liegen. Wir kennen die Pyramiden; der Auto-und Fahreindruck auf den Straßen wirkt wie eine Übersetzung der abstrakten Zahlen. Doch etwas anderes kommt hinzu. Ein 2010 geborenes Kind kann heute in Deutschland damit rechnen, 100 Jahre alt zu werden. Gehirnforscher nehmen an, dass etwa 80% dieser Hundertjährigen dement sein werden.

Wir sind unvorbereitet. Unsere Gesellschaften haben weder Erfahrungen im Umgang mit einer derartigen Anzahl von alten Menschen noch im Umgang mit Menschen so hohen Alters und seiner Begleiterscheinungen. Gewiss, dafür braucht es eine politische Lösung. Eine Lösung der freiwilligen Beschränkung und des, sagen wir es deutlich: Lebensschutzes. Sie kann und soll einem gesellschaftlichen Diskussionsprozess nicht vorausgehen, sondern ihm folgen. Diese Diskussion allerdings fehlt weitgehend. Beschämt schauen wir weg.

Doch da sind sie wieder, beim Bäcker, die alten Köpfe. Die Frauen alle gleich grau, gleich gelockt. Eine mit altmodischem Spazierstock. Eine Dritte rot gefärbt. Zwei teilen sich den Brotbeutel, manövrieren die Brötchentüte gemeinsam hinein. Das ist so schwierig wie einparken. Statt zu beobachten, welche von beiden sich ans Steuer setzt, packe ich den Computer aus. Denke nach, worum es geht: Respekt und Fürsorge, Übergriff und Verantwortung.

Und tippe: „Steuern, bitte schön!“

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