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Crashkurs in totalitärer Linguistik

 

Der Westen unterstellt gern, Wahlen in Osteuropa würden undemokratisch ablaufen. Das ist natürlich Unsinn. Man meint nur etwas anderes, wenn man von Demokratie spricht.

© STR/Getty Images
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Im belarussischen Parlament wurden zum ersten Mal seit zwölf Jahren zwei Oppositionelle gesichtet. Trotzdem entsprach die Parlamentswahl nach Einschätzung des OSZE-Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte nicht den internationalen Standards. Vorausgegangen waren komplizierte Hintergrundgespräche. Nun fühlen sich beide Seiten an der Nase herumgeführt und zeigen sich verärgert: sowohl diejenigen, die angeordnet haben, die Opposition ins Parlament zu lassen und denen jetzt die Anerkennung aus Europa verweigert wird, als auch diejenigen, die einen ehrlichen Wettstreit erwartet hatten und denen die Verkündung der Ergebnisse nun sauer aufstößt.

Mir tun diesmal beide Seiten leid.

Schließlich hat nicht gezielte Sabotage die Absprachen ins Leere laufen lassen, sondern die Unfähigkeit zur Verständigung. EU und Belarus sprechen schon die ganze Zeit verschiedene Sprachen.

Ich möchte Michel Foucault um die These ergänzen, dass Macht auch die Möglichkeit ist, Worten denjenigen Sinn mitzugeben, der einem genehm ist. Dabei ist offensichtlich, dass das wunderliche „Demokratie“-Verständnis nicht in der Hinterfotzigkeit des belarussischen Regimes begründet liegt, sondern auf ein ganzes Korpus von misreadings zurückgeht, die noch in der totalitären UdSSR geprägt wurden. Erste Beobachtungen darüber, wie die Sprache angesichts der neuen, von den Bolschewiki installierten Wirklichkeit mutierte und aus dem Leim ging, finden sich in den Tagebüchern Iwan Bunins von 1918 bis in die 1920er Jahre, die unter dem bezeichnenden Titel Verfluchte Tage veröffentlicht wurden. Putin und Lukaschenko denken in diesem Wortschatz, mit dem Generationen kommunistischer Kader aufgewachsen sind. Die eigentliche Bedeutung dieser Terminologie zu kennen, ist nicht nur für Diplomaten hilfreich, sondern für alle, die verfolgen, was in den Ländern östlich von Polen vor sich geht.

Nehmen wir einige Begriffe genauer unter die Lupe.

„Demokratie“ bedeutet im Politrussisch etwas in der Art des gorbatschowschen „Pluralismus“. „Demokratie“ ist, wenn bei den Wahlen ein Haufen Subjekte umeinanderlaufen, die man einerseits kaum als „Regierung“ bezeichnen kann, die aber auch nicht „Opposition“ sind (vgl. Eintrag „Opposition“). Veteranenverbände, die aus dem staatlichen NGO-Topf finanziert werden (so was gibt’s!), Sportler aus den Staatsverbänden, regierungstreue Kommunisten – sie alle spielen mit bei der Massenszene, die der Bevölkerung als „agonaler politischer Prozess“ verkauft wird. Zu dieser „Demokratie“ gibt es zwei Antonyme. Erstens die „Diktatur“, also ebenjene „Demokratie“ nur ohne Veteranenorganisationen, siehe Usbekistan. Zweitens den „Bardák“, jenes Durcheinander, mit dem nach sowjetischer Tradition die Erscheinungsformen der eigentlichen (also westlichen) Demokratie bezeichnet werden. Wenn ein Taxifahrer in Minsk einem auswärtigen Gast erklären will, was Lukaschenko Gutes getan hat, sagt er: „Bei uns ist nicht so ein Bardák wie in der Ukraine.“

„Wahlen“ sind die Bestätigung des Staatsoberhauptes für eine weitere Amtszeit. Bezogen auf das Parlament sind sie die Bestätigung der von oben vorgegebenen Liste. In der UdSSR wurde diese Bestätigung dadurch vereinfacht, dass auf den Stimmzetteln nur ein einziger Name stand. Jetzt gibt es wegen der „Demokratie“ gleich mehrere. Das stürzt das Volk in Verwirrung, wen genau die Regierung denn nun vom Volk gewählt sehen will. Um Fehlentscheidungen vorzubeugen, dauern Wahlen in Belarus eine Woche lang, das nennt sich dann „vorzeitige Stimmabgabe“. Nachts geschehen, wenn man der „Opposition“ glauben will, mit den Wahlurnen aufregende Dinge. Ziel des Wahlgangs ist es, seine Loyalität zur Regierung zu bekunden, „ziviles Engagement“ zu zeigen. Was wiederum nicht bedeutet, Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen, sondern sich mit dem Präsidenten solidarisch zu zeigen. Die edelste Form „zivilen Engagements“ zeigt man durch seine vorzeitige Stimmabgabe.

„Beobachter“ sind Vertreter von GUS-Missionen, die ins Land geladen werden, am Kultur- und Bankettleben teilnehmen und anschließend die Wahlen als fair anerkennen. Interesse für die Auszählung der Stimmen oder für das Leben der Urnen in der Zeit zwischen den Wahltagen legen die „Beobachter“ nicht an den Tag. Zum Ausgleich dafür verhält sich die Beobachtermission dann angesichts der Feinheiten bei den nächsten Wahlen in der entsprechenden Republik ebenfalls loyal. Beobachter von im Parlament vertretenen Parteien oder OSZE-Missionen sind folglich nicht zu den echten „Beobachtern“ zu zählen, da sie ständig darauf aus sind, die Urnen zu fotografieren und den Abstand zu den Auszählungstischen auf weniger als drei Meter zu verkürzen. Sie gehören damit zur „Opposition“.

„Menschenrechte“ sind in erster Linie das Recht auf Arbeit. Jeder Einwohner von Belarus hat eine Arbeit, und wer keine Arbeit hat, hat dem Staat die sogenannte Müßiggang-Steuer zu entrichten. Arbeiter bekommen einen auf zwei Jahre befristeten Beschäftigungsvertrag, der bei mangelndem „zivilem Engagement“ gekündigt werden kann. Die Angst vor der Nichtverlängerung des Arbeitsvertrages und die in meinem Roman Paranoia beschriebene zweite Angst sorgen zuverlässig dafür, dass „ziviles Engagement“ und vorzeitige Stimmabgabe große Popularität genießen.

„Unabhängige Medien“ sind Fernseh- und Radiosender, die gänzlich unabhängig von Privatkapital und Eigentümern aus der freien Wirtschaft arbeiten dürfen. Im Gegensatz zu westlichen Ländern, wo nur noch Körperschaften auf Sendung gehen, gehört das Fernsehen in Belarus dem Volk und wird aus Mitteln des Volkes finanziert, die Leitung der Fernsehsender wird vom Präsidenten bestätigt, der persönlich für die uneingeschränkte Freiheit der Journalisten garantiert. Medien, die nicht direkt dem Präsidenten unterstehen und womöglich gar aus dem Ausland senden, gehören zur „Opposition“.

„Opposition“ sind vom Westen bezahlte Dissidenten und Saboteure. Alles Positive, was im Land geschieht, ist das Verdienst des Präsidenten, alles Negative geht auf das Konto der „Opposition“. Die „Opposition“ erstreitet westliche Sanktionen, untergräbt den Außenhandel, zeichnet Investoren ein unvorteilhaftes Belarus-Bild und verbreitet Lügen darüber, was nachts mit den Wahlurnen passiert. Die „Opposition“ ist schuld am lahmenden Wirtschaftswachstum und den wiederholten Abwertungen den belarussischen Rubels. Die „Opposition“ hat nicht das Ziel, an die Macht zu kommen, da die bestehende staatliche Ordnung eine „Machtergreifung“ prinzipiell ausschließt (vgl. Eintrag „Wahlen“). Hauptziel der „Opposition“ ist es, denselben Bardák wie in der Ukraine anzurichten.

„Bilaterale Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen“ ist das Recht von Drittstaaten, Belarus Finanzhilfe in Form von Krediten, billiger Energie und uneingeschränktem Zugang zu deren Absatzmärkten zu gewähren.

„Demokratische Wahlen nach internationalen Standards“ sind eine Kampagne nach dem Prinzip „Demokratie“, infolge derer diejenige Anzahl „Oppositioneller“ ins Parlament gelassen wird, die noch nicht zu einem Bardák führt (für Belarus bedeutet das 2 von 110).

Wenn also bei den nächsten Gesprächen mit dem offiziellen Minsk belarussische Diplomaten „demokratische Wahlen nach internationalen Standards zur Stärkung der bilateralen Zusammenarbeit“ versprechen, bitte gleich richtig verstehen und Geld bereitlegen.

Die dritte Auflage der Großen Sowjetenzyklopädie aus den Jahren 1969–1978 definierte „Totalitarismus“ als einen Begriff, der „von der antikommunistischen Propaganda auf sozialistische Staaten bezogen wurde, die in verleumderischer Weise mit faschistischen Regimen gleichgesetzt und der ‚demokratischen‘, ‚freien‘ Gesellschaft gegenübergestellt wurden“. Sollten also zukünftig Zweifel auftreten, was ein russischer oder belarussischer Diplomat genau meint, wenn er von „Volksherrschaft“ oder „Legitimität“ spricht, hilft ein Blick in diesen Text oder in die dritte Auflage der Großen Sowjetenzyklopädie.

 

Aus dem Russischen von Thomas Weiler

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