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Hat da jemand Paranoia gesagt?

 

Normale Geisteshaltung? Vollkommen überschätzt! Lieber sollte man mal etwas Unsinniges tun. Zum Beispiel durch die Schweiz reisen und nach geheimen Botschaften suchen.

Das Montreux-Palace Hotel © [M] Philippe Desmazes/AFP/Getty Images
Wenn man den verkritzelten Stadtraum Berlins verlässt und, sagen wir mal, eintritt in ein von förstergrünen Straßenbahnen sanft durchbimmeltes Basel, dann kann es passieren, dass das Auge hungrig bleibt. Auch wenn es in der Baseler Buchhandlung mit dem tollsten Buchhandlungsnamen Basels, nämlich Labyrinth, zahllose Buchstaben zu verschlingen gibt. Viele stecken in den zu Studienzeiten süchtig eingekauften, aufgereihten, angeblätterten und gelegentlich sogar gelesenen stw-Bändchen, einige aber auch in dem schönen schmalen Band Simeliberg des Schweizer Autors Michael Fehr, erschienen im Verlag Der gesunde Menschenversand. Schön und gut, doch lauert das Auge nicht vor allem auf nicht zwischen Buchdeckel gesperrte, nicht dick auf Schilder gedruckte, nicht im Internet, das nichts vergisst, ewiglich flimmernde Geheimbotschaften? Ja, das tut es. Am Bahnhof in Basel steht an einem Baugerüst immerhin der wahre, wenn auch wenig überraschende, weil weltweit gültige Satz: Aufwertung heißt Verdrängung. Gemeint ist aber nicht der nach zwei Stunden in der Schweiz jählings verarmte Großkantonist, der hier durch die gesalzenen Frankenpreise verdrängt werden soll, sondern der eidgenössische Niedrigverdiener.

Ansonsten aber ist die Stadt sauber und für den eintägigen Blick frei von heimlich an die Wände gekritzelten Botschaften. Vielleicht ist es auch falsch, die Geheimbotschaften der Schweiz, so es sie denn gibt, an den Wänden zu suchen und nicht in den Bergen. Aber warum soll man nicht das Falsche tun? Manchmal, wenn nicht immer, oder nein, nur manchmal, ist das Falsche so schmerzhaft lehrreich, dass es dadurch am Ende doch genau das Richtige war. Bitte ein Beispiel für das Falsche. Gern, wie wäre es mit: Eine Nacht im Palace Hotel in Montreux zu verbringen. Von außen gesehen wirkt das Hotel wie die Kulisse eines Wes-Anderson-Films, doch innen, da erschrecken den Gast die leeren Gänge, leeren Hallen, leeren Gesichter. Allein der Blick auf den seltsamen See, auf dem soeben eine tieffliegende Wolke notlanden musste, erfüllt das Herz mit, na, mit was?

Brav in getrennten Betten

Übrigens, wer den Blick aus dem alten, Le Cygne genannten Teil des Hotels geworfen hat, und zwar am besten aus dem sechsten Stock, der kann sich nun auf dem Absatz umwenden und hineintreten in die von Vladimir Nabokov von 1961 bis zu seinem Tod im Jahre 1977 bewohnten Gemächer. Wobei Gemächer für den überschaubaren Raum nicht der richtige Ausdruck ist. Und wer will in Gegenwart dieses literarischen Scharfrichters schon mit falschen Ausdrücken um sich werfen? Aber weiter. Wer sich nun, während hinterrücks die Milchschwaden des Seenebels durch das Balkongeländer strömen, nach rechts wendet und an den Schreibtisch tritt und sodann dessen linke Schublade aufzieht, der entdeckt dort einen echten, wahren, guten Fleck des Meisters. Einen Tintenfleck in Form einer Tatze.

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Der von Vladimir Nabokov hinterlassene Tintenfleck © Martin Lechner

Hinterlassen womöglich von einer schmetterlingshaschenden Killerkatze? Nein, das sicher nicht. Aber Tatze hin, Katze her, der Fleck kann, wenn man locker in den Knien federt, Sprungbrett sein für den Gedanken, den Nabokov höchstselbst in dem im September 1966 mit Alfred Appel, einem ehemaligen Studenten aus Cornell, hier in seinen Räumen geführten Interview äußerte, dass nämlich die Fantasie eine Form des Gedächtnisses sei. Er spricht in diesem Zusammenhang von Mnemosynes geheimnisvoller Voraussicht, mit der sie das eine oder andere Element auf Lager gelegt habe, das die schöpferische Fantasie möglicherweise benutzen möge, wenn sie es später mit anderen Erinnerungen oder Erfindungen kombiniere. Insofern handelt es sich bei diesem Fleck vermutlich um den Abdruck der Katze der Erinnerung. Und was möchte sie? Sie möchte uns ermuntern, nicht muffig zu maunzen, wenn eine kleine, ausgelassen durch das Gedächtnis segelnde Vergangenheit nicht artig in den Hafen einfährt, sondern sich stattdessen mit dem besten Wind aufs offene Meer blasen lässt. Oder anders gesagt: Vielleicht führen Erinnerung und Fantasie keine Geschwisterbeziehung mit brav getrennten Betten, sondern eine Amour fou mit der wildesten gegenseitigen Durchdringung.

Mag sein, mag alles sein, doch für genaueres Durchdenken ist leider keine Zeit mehr. Denn schon umwirbelt der Gespensternebel des Lac Leman die Füße des frei, aber gänzlich unfreudianisch assoziierenden Gastes, der augenblicklich den Koffer und die Flucht ergreift. Auf der Hatz die Treppen hinab, vorbei an den übermannsgroßen, allein nicht auszufüllenden Treppenhausspiegeln, fühlt er sich ganz und gar neben den Schuhen, wie Michael Fehr vielleicht sagen würde. Ein Schweizer Ausdruck für eine nicht-normale Geistesverfassung. Wobei die Frage ist, was denn so eine sogenannte normale Geistesverfassung eigentlich wäre. Aber das führt zu weit. Auf jeden Fall ähnelte die Verfassung des Geistes unseres lieben Gastes beim Verlassen der letzten Lebensstation des Meisters der Geistesverfassung unseres lieben Gastes beim Verlassen der ersten Lebensstation des Meisters. Denn auch das Geburtshaus Nabokovs in Sankt Petersburg verließ er, als es in einem der oberen Räume, die ihn in einem traurig vernachlässigten Zustand empfingen, gruselig knarzte, im Sturm. Doch da, kaum im Freien, jagt er weiter, weiter bis zum See. Der nun, da der Nebel zur Gänze eingezogen ist in das Hotel, metallisch schimmernd und atemlos daliegt.

Bis uns ganz grün wird

Sanft rollen die Wellen vom Bug des Fluchtbootes, das rasend langsam hinüberbrummt nach Lausanne, über die seidenglatt hingespannte Fläche des Wassers. Während der Fahrt darf wieder ein wenig nachgedacht werden. Zum Beispiel darüber, dass es doch merkwürdig ist, dass sich der alte Schmetterlingssammler seines berühmtesten Schülers, Thomas Pynchon, nicht entsinnen konnte. Wo es doch gerade dieser war, der unseren Gast erst dazu brachte, dessen Lehrer zu lesen. Außerdem war es ja auch dieser nach seinem Debüt V. abgetauchte Mr. P., der seinen zweiten Roman einem geheimen Kommunikationssystem gewidmet hatte. Wenn auch nicht in der Schweiz, sondern in Kalifornien. Wo es keine Berge gibt. Sondern Hügel. Wahnsinnig weich wirkende Hügel. Aber das nur nebenbei.

© Martin Lechner
© Martin Lechner

Soeben nämlich landet unser Gast in Lausanne und besucht schnurstracks die Art Brut-Ausstellung in der Avenue Bergières 11. Eine Stunde später torkelt er überfordert von den zahllosen, durchgedrehten Zeichen und Symbolen zurück in die hier und heute ziemlich französisch niederstrahlende Sonne und entdeckt endlich, endlich die erste wahre Geheimbotschaft der Schweiz. Siehe Foto.

Nein, es ist nicht das gedämpfte Posthorn des alternativen Kommunikationsnetzes aus Pynchons The crying of Lot 49, das Oedipa Maas, die Hauptfigur, erstmals auf einer Toilettenwand entdeckt, stattdessen erinnert es eher an, tja, an was denn nur? An eine Kartoffelsackfigur mit Locken und einem Balken über den Augen? An eine eben scharf gemachte Handgranate? An ein Lasso, das die Buchstaben e, e, l, e, l einfangen möchte, aber leider versagt?

Als ahnungsloser Gast der Schweiz könnte man nun, um das Rätsel zu lösen, das ganze Land absuchen nach diesem seltsamen Symbol. Vielleicht steht es in Genf, in Locarno, in Bern und überall an den Wänden. Aber, seufzt da unser Gast, ist die paranoide Pirsch nach einem geheimen Symbolsystem nicht im Grunde auch nur der Versuch, sich einer tieferen Ordnung zu versichern, die unter der doofen, leeren Gegenwart schlummert und schnurrt? Ja, und wenn? Was wäre falsch daran? Nichts. Aber kommen wir zum Schluss. Dazu bestellen wir eine Flasche Absinth und trinken, meine Damen und Herren, so viel, bis uns ganz grün wird vor den Augen und wir schön blöd zurückfahren nach Berlin.

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