Aufatmen allerorten: Die AfD doch nur ein Scheinriese, der Rechtsruck doch nicht so arg. Täuschen wir uns nicht. Es ist viel zu tun, um den völkischen Spuk zu beenden.
Spargelzeit 2017: Deutschland kehrt zur Normalität zurück. Will sagen, eine teils verkappt, teils unverhohlen rechtsextreme Partei ist nun ins zwölfte und dreizehnte Länderparlament eingezogen, aber alle sind beruhigt, weil es schlimmer hätte kommen können.
Schlimmer heißt, die AfD hätte nicht knapp sechs Prozent geholt wie in Schleswig-Holstein und nicht knapp siebeneinhalb wie in Nordrhein-Westfalen, sondern irgendwas Zweistelliges, wie letztes Jahr immer wieder; bis hin zu Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, wo sie jeweils die zweitstärkste Fraktion im Landtag stellt. Ausrutscher dieser Größenordnung sind passé, und ein untrügliches Zeichen für back to normal ist, dass uns einmal mehr die Amis den Arsch gerettet haben.
Seit in den USA tatsächlich Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde und erst recht seit er im Amt ist, also das tut, was er unter Regieren versteht, lässt in Europa die Lust am eigenen Rechtsdrall nach. In den Niederlanden gewann in letzter Minute nicht Geert Wilders die Parlamentswahl, in Frankreich wünschte sich am Ende zwar ein gutes Drittel der Abstimmenden Marine Le Pen als Staatschefin, aber knapp zwei Drittel eben nicht, und in Deutschland ist es doch noch Frühling geworden.
Also alles wieder in Butter, in guter Spargelbutter, in Butter so mild gesäuert wie das traute Antlitz unserer Kanzlerin. Der Wutbürger-Schlachtruf „Merkel muss weg!“ klingt jetzt schon so altmodisch wie „Ho, Ho, Ho Chi Minh“. Die Performance des Polit-Dilettanten mit dem narzisstischen Superhau jenseits des Atlantiks treibt bei uns die eben noch entfesselten Salon- und Stammtischrassisten scharenweise zurück zu Mutti. Die Amerikaner opfern ihre Demokratie dem Donald – dem Rest der westlichen Welt zur Mahnung. Derart selbstlos haben wir sie nie zuvor erlebt; darauf einen Grauburgunder zum Gemüsekönig und ein Gipfelchen für Ivanka.
Die neue deutsche Normalität ist indessen sogar so normal, dass bei einer Landtagswahl wieder eine Mehrheit für Schwarz-Gelb herausspringen kann. Schwarz-Gelb! Das fühlt sich an, als ob Berti Vogts noch einmal Bundestrainer würde. Oder wenigstens Karl-Theodor zu Guttenberg. Wie gesagt, alles in Butter, sogar die Frisur.
Bloß dass eben in 13 Länderparlamenten jetzt die selbst ernannte „neue Rechte“ sitzt. Insgesamt nicht so dick wie befürchtet, aber doch drin. Und dass die AfD es im September obendrein in den Bundestag schaffen wird, bezweifeln auch nur die sonnigsten Gemüter. Dann haben wir hier ein parlamentarisches Panorama, das sich von denen in den Nachbarländern nicht mehr groß unterscheidet. Aber wer das für normal halten will, übersieht ein Detail: Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hat eine rechtsextreme oder rechtspopulistische Partei bei einer Bundestagswahl die Fünfprozenthürde genommen. Was im Herbst droht, ist eine Zäsur.
Natürlich kann man diesen Befund verwässern, indem man darauf hinweist, dass Teile der Unionsparteien oder auch der FDP sich immer schon oder phasenweise rechtspopulistisch gebärdet haben. Oder indem man an all die Nazis erinnert, die im politischen Apparat der frühen Bundesrepublik Karriere machen konnten. Aber es bleibt doch ein Unterschied: Die heute im Bundestag vertretenen Parteien sind zumindest von ihren verbrieften ideologischen Grundlagen her zweifellos demokratisch. Die AfD ist das nicht. Sei es bei der Religionsfreiheit oder bei der Freiheit der Kunst, sei es bei der Gleichberechtigung der Geschlechter, bei der Menschenwürde allgemein oder auch beim vage herbei phantasierten „sicherheitspolitischen Befreiungsschlag“: Auf seine biedermeierliche Weise entfaltet das „Grundsatzprogramm“ der AfD einigen Drang, aus der Verfassungsordnung auszuscheren.
Und ja, wir haben uns jetzt einige Jahre lang daran gewöhnt, dass Trolle (für die zu diesem Zweck der Euphemismus „besorgte Bürger“ eingeführt wurde) mit ihrem paranoiden Geschimpfe die Debatten im Land an sich reißen. Gewöhnt haben wir uns an das ständige Gejammer neurechter Funktionäre, man mache sie mundtot, obwohl sie ihre Hetzreden und Untergangsszenarien unentwegt und zur besten Sendezeit verbreiten dürfen. Auch an die demoskopische Erkenntnis, dass unsere Gesellschaft ein „rechtspopulistisches Potenzial“ von etwa 20 Prozent der Bevölkerung berge, haben wir uns gewöhnt. Und sind nun, wie gesagt, schon froh, wenn die AfD an den Urnen trotzdem nur einstellige Ergebnisse einfährt.
Alle lehnen sich wieder zurück, Seehofer kuschelt wieder mit Merkel, Merkel lässt es geschehen, die Sozis wundern sich in aller Ruhe, dass ein neuer Bart an der Spitze doch nicht ausreicht, um Wahlen zu gewinnen, die Grünen glauben offiziell, ihr Abschmieren liege daran, dass ihre „Themen“ zurzeit nicht „der heiße Scheiß“ seien, und wer die Kartoffeln zum Spargel leid ist, der probiere mal badische Kratzete aus.
Jeder soll ja gerade ein Scheinriese sein. Der Scheinriese ist die Metapher der Stunde, eins dieser Bilder, die eine Weile lang zwanghaft weitergereicht werden unter Kommentatoren, Journalisten, Zeitdiagnostikern. Scheinriesen, überall Scheinriesen. Ihre Inflation begann lustigerweise etwa zur gleichen Zeit wie die Macke der Fußballreporter, alles, was sie gut finden, „überragend“ zu nennen. Und so war einer der ersten angeblichen Scheinriesen, die mir in der Presse begegneten, der damalige Bayern-Trainer Josep Guardiola, dem der sportliche Philosoph Wolfram Eilenberger dieses Etikett anzuheften versuchte. Seither aber ist kein Halten mehr. Es wimmeln die Wiedergänger des traurigen Herrn Tur Tur aus Michael Endes Jim-Knopf-Büchern, wohin man auch blickt.
Denn das ist einer der wichtigsten Mechanismen der neuen deutschen Normalität: der „Ach, ist doch nicht so schlimm“-Mechanismus. Durchaus heilsam wirkte er in der sogenannten Flüchtlingskrise. Bei all dem Gezeter von Überforderung, von Kontrollverlust und Chaos plus neurechter Dauerbeschallung mit Schwachsinnsparolen von „Islamisierung“ bis „Bevölkerungsaustausch“ blieb ja der Großteil der Bevölkerung erstaunlich gefasst. Die auch von den eigenen Politikern vorzugsweise als dauerverzagt und krankhaft misstrauisch eingestuften Bundesbürger hießen die Geflüchteten willkommen, packten an, halfen weiter, schafften das. Und jetzt stehen die Zeterer ohne Argumente da – denn einem Untergang des Abendlandes sind wir zwar mit Brexit und Trump-Wahl zwei Schritte näher gekommen, nicht aber mit der merkelschen Flüchtlingspolitik. Im Gegenteil. Nur ein solidarisches und weltoffenes Abendland wäre noch zu retten.
Eben deshalb sollten wir den „Ach, ist doch alles nicht so schlimm“–Mechanismus nicht auf die parlamentarische Präsenz der neuen Rechten übertragen. Die AfD mag zur Stunde der Scheinriese schlechthin sein (und im Gegensatz zu Herrn Tur Tur auch noch rasend unsympathisch). Aber wie sie sich in den letzten Monaten in all ihrer Widerlichkeit, von Höckes Nazitönen bis zu Pretzells Winkelzügen, selbst bloßgestellt und sich im Machtkampf zwischen ihrem „völkischen“ und ihrem Petry-heil-Flügel auf offener Bühne eigenhändig zerlegt hat: Da ist es schon sehr schlimm, dass sie nach wie vor in Parlamente einzieht.
Zumal jetzt nicht einmal mehr die Erklärung verfängt, diese Partei ziehe Politikverdrossene und bisherige Nichtwähler auf sich, solche, die glauben, bei den „Altparteien“ hätten doch eh alle Dreck am Stecken. Wer heute die AfD wählt, gibt Politikern seine Stimme, die nicht mutmaßlich fies sind, sondern offenkundig. Die verirrten Bürgerlichen und die, die sich vom neurechten Anti-Establishment-Getue blenden ließen, sind ernüchtert und wählen jetzt doch wieder Schwarz oder Gelb oder gar nicht. Geblieben sind der AfD nur diejenigen, die denken: Endlich sprechen mal welche offen aus, was wir nur ab dem vierten Bier vor uns hin grollen oder unterm Aluhut brabbeln. Und trotzdem schafft es die Gurkentruppe noch über Fünfprozenthürden. Das heißt, die Verrohten, die Verbitterten und die Verschwörungsfetischisten haben in Deutschland heute Fraktionsstärke.
Normalität darf das nicht werden. Ebenso wenig wie die über zehn Millionen Wählerstimmen für Marine Le Pen in Frankreich, oder dass ein Donald Scheinriesenbaby in den USA Präsident wird. Zwischenbilanz zur Spargelzeit: Gerade da der erste Schreck über das entpuppte „rechtspopulistische Potenzial“ abgeklungen ist, wird sichtbar, wie viel auch in einer vergleichsweise stabil wirkenden Demokratie wie dieser hier zu tun bleibt, damit der völkische Spuk wieder aufhört. Und wie wenig bisher getan wird. Ein Bundesinnenminister, der von Leitkultur schwadroniert, und eine SPD, die in ihrer Verzweiflung mit einer „harten Linie bei der Inneren Sicherheit“ aufzutrumpfen versucht, hecheln immer noch der neurechten Hysterie hinterher, anstatt dieser Hysterie halbwegs standhaft eine Vision vom offenen, vielfältigen und freiheitlichen Deutschland entgegenzusetzen.
Eine Vision, für die immerhin der weitaus größte Teil der Bevölkerung steht. Es ist bizarr, dass ausgerechnet die Strategen der traditionellen Volksparteien das nicht wahrhaben zu wollen scheinen. Dass sie stattdessen mit ihrer Hardliner-Rhetorik eine kleine, grimmige Minderheit – den Rest der AfD-Affinen – päppeln, als wollten gerade sie die Neurechten unbedingt mit im Bundestag haben.
Die vielbeschworene Entfremdung zwischen Politikern und den „Menschen im Land“: So sieht sie heute aus.
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