Polens emotionale Spaltung begann spätestens 1989. Der aktuelle Rechtsruck der Gesellschaft zeigt, wie viele Menschen sich als Opfer der Demokratisierung verstehen.
Vor einigen Monaten hat ein Vorgang in Polen unter der 2015 gewählten Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) meine Aufmerksamkeit geweckt. Es war nämlich durch die autokratisch regierende Partei die Richterin Julia Przyłębska zur neuen Präsidentin des Verfassungsgerichts ernannt worden. Dieser Vorgang erschien mir nicht nur deshalb beachtenswert, weil das Verfassungsgericht dadurch – nachdem schon zuvor mehrere Richter durch PiS-nahe Kandidaten ausgetauscht worden waren – endgültig seiner Unabhängigkeit beraubt wurde. Besonders bemerkenswert fand ich bei dieser jüngsten Entwicklung die ernannte Person selbst.
Die unabhängige Zeitung gazeta wyborcza hatte nach der Nominierung von Julia Przyłębska Akten veröffentlicht, die aus der Zeit ihrer Anstellung in einem lokalen Gericht in Poznań in den 1990er Jahren stammten, wo Przyłębska im Bereich der Sozialversicherungsdelikte tätig gewesen war. Als sie nach einer längeren privat motivierten Pause 2001 in ihre Tätigkeit zurückkehren wollte, wurde sie abgelehnt. Die Richter, die in ihrer Sache im zuständigen Gremium entscheiden sollten, führten zur Begründung ihrer Entscheidung fachliche Fehler an (unter anderem vier Urteile, die sie ohne die Untersuchung der für die Verhandlungssache relevanten Beweise gefällt habe) sowie überdurchschnittlich häufiges Fehlen am Arbeitsplatz. Dieselbe Richterin also, die 2001 von einer Mehrheit von 101 zu 68 Richtern und Richterinnen von ihrer Tätigkeit in einem lokalen Gericht ausgeschlossen worden war, wurde nun die Vorsitzende des polnischen Verfassungsgerichts, und zwar, wie man annehmen kann, nicht zuletzt aufgrund ihrer ideologischen Nähe zur PiS-Partei.
Robin Hood oder schlechte Richterin
Das sagt natürlich etwas über die gerade regierende Partei Recht und Gerechtigkeit aus. Aber viel aussagekräftiger schien mir die nächste Entwicklung zu sein. Denn kurz darauf reagierte Frau Przyłębska auf die Enthüllung der Zeitung mit einem Statement, das sich auf die Vorwürfe aus dem Jahr 2001 bezog. In diesem ebenfalls in der gazeta wyborcza veröffentlichten Statement erklärte sie, dass die angeblichen Fehler ihrer Rechtsprechung aus dem Kontext gerissen und auf manipulative Weise gegen sie verwendet worden seien. Bei ihren Absenzen habe es sich um Urlaubstage oder unbezahlte Tage gehandelt, an denen sie wichtige Familienangelegenheiten zu erledigen gehabt habe. Sie sprach in ihrem Statement von einer offensichtlichen Verschwörung der gegen sie urteilenden Richter und Richterinnen. Zuvor habe man sie stark dafür angegriffen, dass sie eine Korruptionsaffäre im Zusammenhang mit einer Wohnungsgenossenschaft in Poznań aufgedeckt habe, in die wichtige Anwälte der Stadt und damalige städtische Regierungsmitglieder verwickelt gewesen seien. Außerdem seien die 90er Jahre schwere Zeiten gewesen, in denen Richter und Richterinnen überdurchschnittlich viele parallel laufende Verfahren zu bearbeiten gehabt hätten, manchmal über tausend, was zur Überlastung eines fast jeden Richters und einer fast jeden Richterin geführt habe. Przyłębskas Statement schließt mit dem Fazit, dass die gazeta wyborcza ihre Sache auf ungerechte Weise dargestellt habe und ihre außerordentliche Karriere dadurch nicht beschmutzen könne. Sowie auch die Tatsache, dass sie keinen Professorentitel besitze, sie keinesfalls für die Position der Vorsitzenden des Verfassungsgerichts disqualifiziere: Richterin, Konsulin, Diplomatin, zwei Fremdsprachen, die Leitung eines zigköpfigen Kreisgerichts, Vorsitzende einer woiwodschaftlichen Wahlkommission, internationale Erfolge, ehrliche Arbeit für Polen.
War Przyłębska wirklich das Opfer einer Verschwörung von 101 Richtern geworden, denen sie durch die Aufdeckung eines Skandals im Zusammenhang mit Immobilien unbequem geworden war? Ist dies eine Robin Hood Geschichte? Oder ist Przyłębska einfach eine schlechte Richterin gewesen?
Um zu verstehen, woher das Gefühl des Opferseins kommt, auch bei den PolitikerInnenn und den JournalistInnen, JuristInnen und Intellektuellen, die der PiS-Partei nahe stehen und den Mythos vom Kampf der Unterdrückten gegen das liberale Establishment erzählen, muss man wahrscheinlich zum einen berücksichtigen, dass in Polen und in den osteuropäischen Ländern tatsächlich ein anderer Kapitalismus verwirklicht worden ist als etwa in Deutschland. Es gibt Strukturen – juristische, aber auch im Denken der UnternehmerInnen, PolitikerInnen und vieler normaler BürgerInnen, auch der sogenannten kleinen Leute, die sich zurzeit als Opfer einer globalisierten Wirtschaft fühlen –, die noch aus der Zeit der kommunistischen Diktatur stammen, in der man gelernt hatte, dass über Beziehungen, Kumpanei und Tausch von Gefälligkeiten die eigene Position oder der eigene Erfolg oder der eigene Wohlstand effektiver gesichert werden könnten als auf dem Wege transparenter und demokratischer Umgangsformen. Andererseits ist es auffällig, dass im selben Land Menschen leben, denen es objektiv gesehen wirtschaftlich genauso geht wie jenen angeblich Benachteiligten, die sich nicht als Opfer der vergangenen 25 Jahre begreifen. Sie betrachten die demokratische Gesellschaft mit freien Medien und Gerichten, politisch unabhängigen Universitäten, Kulturinstitutionen und Schulen als bestmögliche Ausgangslage, aufgebaut auf der europäischen Tradition des aufgeklärten Denkens und den politischen Konsequenzen des Terrors des 20. Jahrhunderts.
Mit solcherlei Fragen, bezogen auf die Vorgänge in ganz Europa, in dem das subjektive Gefühl des Opferseins derzeit viele Menschen befällt, beschäftige ich mich seit geraumer Zeit, wie viele Leute. Insbesondere interessiere ich mich in diesem Zusammenhang für Polen, aus dem ich stamme und in dem meine Eltern am eigenen Leib die Willkür eines totalitären Systems und seiner Begünstigten erlebt haben. Ich bin oft in Polen und habe Freunde dort, mit denen ich über die politischen Veränderungen in Polen und Europa spreche.
Adam Michnik und Jarosław Kurski
Im Mai dieses Jahres bekam ich ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte, denn es versprach den direkten Kontakt zur polnischen Regierung. Der deutsche Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier ließ mich durch Mitarbeiter des Bundespräsidialamtes fragen, ob ich ihn als Mitglied einer Gruppe von drei Sondergästen aus dem Kulturbereich bei seiner Antrittsreise nach Warschau begleiten möge. In Aussicht stand unter anderem eine Begegnung mit Präsident Andrzej Duda im Präsidentenpalast.
Meine Vorstellung, es würde auf dieser Reise zu einem Gedankenaustausch zwischen Politiker und Schriftsteller kommen, hatte sich natürlich schon nach den ersten Minuten im ablaufenden Zeremoniell eines historischen Staatsbesuchs relativiert; in der deutschen Präsidentenmaschine schüttelte Frank-Walter Steinmeier uns drei Sondergästen kurz die Hand, bevor er nach hinten zu den Journalisten und Journalistinnen entschwand.
Vom Frédéric-Chopin-Flughafen fuhren wir in einer Kolonne zum Präsidentenpalast in der Krakowskie Przedmieście im Zentrum der Hauptstadt, wo Andrzej Duda den Bundespräsidenten und seine Delegation mit militärischen Ehren empfing. Dabei wurde auch ich als Teil der Delegation vom polnischen Präsidenten und seiner Frau Agata Kornhauser-Duda persönlich begrüßt.
Während sich die zwei Präsidenten dann zu einem Gespräch zurückzogen, erhielten wir Sondergäste die Möglichkeit, den Chefredakteur und dessen Stellvertreter der gazeta wyborcza, Adam Michnik und Jarosław Kurski, zu treffen. Das war insofern überraschend, als diese legendäre, 1989 in den Tagen der ersten demokratischen Wahlen durch die Solidarność-Bewegung gegründete Zeitung heute zu den wichtigsten Medien der Opposition gehört. Ich weiß nicht, ob die polnische Regierung oder Andrzej Duda oder irgendjemand in seinem Stab mitbekommen hatte, dass dieser Termin stattfinden würde, und dazu ausgerechnet während des Gesprächs der zwei Präsidenten. War es sogar eine vom deutschen Bundespräsidialamt gezielt gesetzte Geste, dass ein Teil der Delegation sich mit zwei Männern trifft, die zu den größten erklärten Feinden der neuen polnischen Nation à la PiS gehören?
Adam Michnik hatte als junger Mann in den 1960ern an den Protesten gegen die kommunistische Führung des Landes teilgenommen und sich gegen die antisemitischen Säuberungen der Institutionen durch die damalige Regierung unter Władysław Gomułka und Mieczysław Moczar engagiert. Dafür hatte ihn die Staatsmacht nicht nur mehrmals für Monate ins Gefängnis gesteckt, sondern ihm danach auch die Erlaubnis zum Studium entzogen, sodass er sich jahrelang als Schweißer durchschlagen musste. In den 1980er Jahren wurde er zu einem der wichtigsten Akteure der Solidarność-Bewegung, die mit dem Protest an der Lenin-Werft in Danzig im Sommer 1980 den Anfang vom Ende der totalitären Herrschaft der Kommunisten einleitete und damit auch das Ende des gesamten sogenannten Ostblocks. In den 80er Jahren saß Michnik, während ich in der sozialistischen Siedlung in Opole meine Kindheit verlebte, wieder mehrmals im Gefängnis oder wurde auf der Straße von Unbekannten zusammengeschlagen. Für mich war es, das muss ich sagen, eine Ehre, ihn kennenzulernen.
Totalitäre Struktur des utopischen kommunistischen Denkens
Die Art und Weise, wie die PiS-PolitikerInnen und ihre Begünstigten in den Staatsmedien gegen liberal denkende und prodemokratisch eingestellte Bürger hetzten, erinnere ihn an das Vorgehen der Regierung von Gomułka im Jahr 1968, sagte Michnik. Wir saßen in einem Redaktionsraum der Agora, des Gebäudes der Agora-Gruppe, die heute die gazeta wyborcza herausgibt. Michnik trug Jeans und ein blaues Hemd. Er lächelte grimmig. Führende PiS-Politiker wie Jarosław Kaczyński oder der seit 2015 offiziell parteilose Andrzej Duda sprächen offiziell von besseren und schlechteren Polen, sagte er, jede Gegenstimme werde unterdrückt oder diskreditiert.
Als allererstes habe die Regierung, erklärte uns Jarosław Kurski, die Anzeigen der Unternehmen, deren Teilgesellschafter der polnische Staat sei, etwa der Tankstellenkette Orlen, aus der gazeta wyborcza zurückgezogen. Auch Kurski hatte sich in den 80er Jahren als junger Mann in der demokratischen Opposition gegen die Kommunisten engagiert. Die Regierung setze auch, sagte er, alle privaten Anzeigenkunden unter Druck, keine Anzeigen mehr in der gazeta wyborcza zu schalten. Es sei denn, sie wollten Probleme mit den Behörden bekommen, zum Beispiel beim Einholen von Genehmigungen. Außerdem sei ein Gesetz geplant, das privaten Mediengruppen wie der Agora verbiete, Betätigungsfelder wie Zeitungsgeschäft, Buchverlag und Radiosender zu vereinen. Auf lokaler Ebene wolle man die Regionalzeitungen unter Kontrolle bringen, die sich zu 70 Prozent in der Hand deutscher Investoren wie der Passauer Neuen Presse befinden.
Dass solche Vorgänge im Jahr 2017 möglich sind, und zwar in einem Land, das 45 Jahre lang autokratisch regiert worden war, erschreckt mich immer wieder. Auch diesmal war mir unbehaglich zumute, während ich im Redaktionsraum des Agora–Gebäudes saß. Andererseits liegt ausgerechnet in den Erfahrungen dieser 45 Jahre eine der Quellen für die emotionale Schärfe der Hetze gegen die liberalen Eliten des Landes. Für das Verständnis der Ursachen dieser emotionalen Schärfe, mit der die PiS-Partei in der Öffentlichkeit rechtfertigt, dass sie die Unabhängigkeit der Gerichte einschränkt und die „Deformen“ der Bildung, des Militärs, der Medien und der lokalen Wahlkreise sowie des lokalen Wahlsystems durchführt, ist Adam Michnik ein gutes Beispiel, denn er ist nicht unumstritten. Nach den Gesprächen am Runden Tisch zwischen Solidarność und den Kommunisten im Jahr 1989 plädierte er für die Politik der „dicken Linie“ des Premiers Tadeusz Mazowiecki und überwarf sich sogar mit Lech Wałęsa, dem ersten Präsidenten der neuen Republik. Er sprach sich dafür aus, dass man die demokratische Gesellschaft zusammen mit denjenigen Eliten aufbaue, die vor 1989 auf der Seite der Kommunisten gestanden hatten, anstatt über den Abrechnungen mit den alten Kadern die Gesellschaft zu destabilisieren.
Diese Politik war einigen ihrer oppositionellen Mitstreiter, die heute Michnik und Jarosław Kurski diskreditieren, aus verständlichen Gründen verhasst. Dieser kritische historische Moment kann im Lichte des grundsätzlichen Konflikts betrachtet werden, der unter den führenden Intellektuellen Polens, aber auch Westeuropas, über Jahrzehnte hinweg ausgetragen worden war. Dieser Konflikt ging von der Frage aus, ob der Kommunismus grundsätzlich abzulehnen sei, oder ob er lediglich unter einer fehlerhaften Herangehensweise leide – eine Frage, über die sich in den 50er Jahren schon Camus und Sartre entzweit hatten, nachdem Camus sein Buch Der Mensch in der Revolte publiziert und die grundsätzlich totalitäre Struktur des utopischen kommunistischen Denkens entlarvt hatte. Die unmenschliche Ideologie des Kommunismus war in den 80er Jahren auch durch die westeuropäischen Linken durchschaut worden. Aber der Konflikt fand in Polen nach 1989, wie Artur Becker in seinem Essay Von der Spaltung der Polen im Essayband Kosmopolen. Auf der Suche nach einem europäischen Zuhause von 2016 beschreibt, eine neue Wendung. Er wurde laut Becker verkörpert durch die zwei großen Intellektuellen der polnischen Emigration: durch Jerzy Giedroyć, Chefredakteur der Exilzeitschrift Kultura in Paris, sowie durch den Schriftsteller und Publizisten Gustaw Herling-Grudziński. Ersterer sprach sich dafür aus, die Kommunisten aus pragmatischen Gründen an der Regierung zu beteiligen. Letzterer war während des Krieges im Gulag interniert gewesen und hatte darüber 1951 das Buch Welt ohne Erbarmen geschrieben. Er warnte stark vor einer Beteiligung der Kommunisten und setzte sich für eine unverzügliche Abrechnung mit ihnen ein.
Die Menschheit muss gerettet werden
Dieser Konflikt trieb schon 1989 einen Keil in die junge demokratische Gesellschaft Polens. Michnik, der auf eine versöhnliche und pragmatische Lösung setzte, zog den Hass seiner Mitstreiter auf sich, unter denen sich auch der heutige PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński befand, der ideologische Vordenker der PiS-Regierung. Kaczyński hat die Niederlage von 1989 nicht vergessen. So versteht man vielleicht, warum Michnik heute besonders gut zur Zielscheibe der Populisten aufgebaut werden kann, die 30 Jahre später sogar EnkelInnen oder Söhne und Töchter von Kommunisten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs an den Pranger stellen. Die PiS-Partei postuliert eine Verschwörung der ehemaligen kommunistischen Kader, die sich heute als linksliberale Demokraten definieren und zu den verhassten Eliten gehören, die in den Augen der PiS-Anhänger seit der linken Revolution 1968 in Westeuropa das Sagen haben. Ihre Verschwörungstheorie belegen sie unter anderem mit Verweisen auf die Korruptionsaffären unter der letzten Regierung des heutigen Europaratspräsidenten Donald Tusk von der liberalen Partei Bürgerplattform (PO) und auf die tatsächlich ungerechte Verteilung des Wohlstands in der heutigen Gesellschaft nach 25 Jahren der polnischen Form des Kapitalismus.
Allerdings ist dies, so dachte ich im Redaktionsraum der Agora sitzend, nur eine der emotionalen Trennlinien, die durch Polen gehen – derzeit gewinnt eine andere an Bedeutung.
Ich bin in Opole in einem katholischen Umfeld aufgewachsen, der geistige Raum des Christentums ist mir vertraut und nah. Aber in der Rhetorik der PiS ist eine Mischung aus weltlichem und religiösem Messianismus zu beobachten, die mich erschreckt. Sie nimmt durch die historisch bedingte Sonderstellung der Kirche in Polen einmalige Züge an. Der Überzeugung der PiS zufolge ist Polen die letzte Bastion des Christentums in Europa, eine letzte Insel, die sich gegen die Islamisierung Europas stemmt und dieses Europa – wie 1683 vor den Türken, 1920 vor den Bolschewiken und 1989 vor dem Kommunismus – diesmal vor den links-liberalen westeuropäischen Eliten retten muss. Die Vergänglichkeit des Daseins und das daraus resultierende Gefühl der Verlorenheit des einzelnen Menschen, der in einem kleinen Städtchen zehn Stunden täglich in der Landwirtschaft oder im Büro einer ums Überleben kämpfenden Firma schuftet und zuhause drei Kinder hat, ist die Ressource der PiS. Dieses Gefühl der Verlorenheit wird über den lokalen Pfarrer beim sonntäglichen Kirchenbesuch mit den Gebeten zu Jesus Christus, der sich für die Menschen am Kreuz geopfert hat, ideologisch übersetzt in die Verlorenheit der gesamten heutigen Menschheit. Diese gesamte heutige Menschheit muss, um die Sprechweise der PiS überspitzt darzustellen, durch Jarosław Kaczyński gerettet werden. Sie muss aus dem Sündenpfuhl der Homosexualität und der Toleranz gegenüber den Frauen-vergewaltigenden-Flüchtlingen aus den islamischen Ländern herausgeführt werden. Sie muss gerettet werden vor der wirtschaftlichen Kolonialisierung durch den deutschen Drang nach Osten und den globalen Kapitalismus aus dem Silicon Valley.
Das ist die Antwort der PiS-Partei auf die Verschiebungen in den Lebensweisen einer globalisierten und mehr und mehr unübersichtlich werdenden Welt, wie Zygmunt Bauman sie in seinem Buch Unbehagen in der Postmoderne beschreibt. Darin zeigt Bauman, dass die Identitäten der modernen Subjekte zunächst, mit dem Ziel, dem Individuum eine freie Selbstverwirklichung zu ermöglichen, von ihren traditionellen Verwurzelungen abgelöst werden mussten. Das Projekt der Moderne „wandelte Identität lediglich um: von etwas Zugeschriebenem zu einer Leistung – und erklärte sie so zur individuellen Aufgabe in der Verantwortung jedes einzelnen“. Die heutigen Rahmenbedingungen für die von der Moderne versprochenen Projekte der Selbstverwirklichung scheinen jedoch aufgrund der Deregulierung der Märkte, der Beschleunigung und der von überall über Europa hereinbrechenden Konflikte nicht mehr stabil genug. Dass es in Deutschland, Russland, den USA oder in der Türkei ähnliche Antworten gibt auf die Verlorenheit des Subjekts, ist bekannt. Auch sie sind, selbst wenn sie nicht wie in Polen explizit von der Kirche getragen werden, pseudoreligiöse Antworten auf die sich für viele nun als schrecklich erweisende Freiheit des Einzelnen. Hinter dieser Freiheit wird offenbar für mehr und mehr Menschen, 25 Jahre nach dem von Francis Fukuyama in dem Buch Das Ende der Geschichte behaupteten Sieg der Demokratie und der freien Marktwirtschaft über den stalinistischen und faschistischen Populismus, wieder der Abgrund der nach allen Seiten hin unbestimmten Existenz erahnbar.
Ich bin davon überzeugt, sagte Michnik an diesem Vormittag im Redaktionsraum des Agora-Gebäudes, dass es in Europa in jeder Gesellschaft ungefähr 30 Prozent der Bevölkerung gibt, die für Populismus und Faschismus anfällig sind. Er wirkte, während er sprach, wütend, verzweifelt fast, als steckte er, der schon die 60er, 70er und 80er Jahre im totalitären Polen erlebt hatte, in einem wiederkehrenden Albtraum. Das große Problem ist, sagte er, dass die heutigen demokratischen Parteien in Polen, wie die Bürgerplattform, keine alternative Idee haben. Fatal wäre es, wenn sie beginnen würden, sich den 30 Prozent anzudienen. Damit spielte Michnik auf einen Vorgang an, der sich ein paar Tage vor unserem Besuch ereignet und der auch mich erschreckt hatte. In einer Abstimmung im Sejm hatten sich alle bis auf zwei Parteimitglieder der Bürgerplattform gegen die Aufnahme von Flüchtlingen in Polen ausgesprochen. Damit hatten sie sich gegen die humanitäre Haltung der EU und vieler Polen gestellt. Mich hatte das enttäuscht. Wir alle leben, wie Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden schon 1795 schrieb, auf ein und demselben Planeten. Bestimmte Aspekte des Daseins können nicht in abgeschlossene Räume gebannt werden, weshalb der Wunsch nach einer kulturellen Abschottung und der Politik des „live and let die“ eine naive Illusion ist.
Dieses mädchenhafte, überraschte Lachen
Am Ende unseres Gesprächs, als es darum ging, was für die Leute, die für eine demokratische und auf den europäischen Prinzipien der Aufklärung und des Humanismus aufgebaute Gesellschaft kämpften, zu tun sei, sagte Jarosław Kurski: Ich bitte innig darum, die europäischen Kulturschaffenden und Medien mögen uns nicht vergessen. Schon in den 70ern und den 80ern sind für uns, die wir die antikommunistische Opposition aus dem Untergrund heraus organisierten, die Medien aus den westeuropäischen Ländern überlebensnotwendig gewesen. Das Wegbrechen der Finanzierung der gazeta wyborcza ist das eine. Aber ohne das Gefühl, dass unser Kampf in Europa Gehör findet, verlieren wir die Hoffnung.
Nach unserem Besuch im Agora-Gebäude fuhren wir zum Nationalstadion, in dem die Warschauer Buchmesse stattfand, mit Deutschland als diesjährigem Ehrengast. In einer Kolonne schwarzer Limousinen fuhren wir danach durch leere Hauptstraßen zum Präsidentenpalast zurück. Dort fand ein Mittagessen statt, an dem viele hohe PiS-Funktionäre teilnahmen. An einem der Tische entdeckte ich auch die oberste Verfassungsrichterin Julia Przyłębska.
Vor dem Palast, schon nach dem Mittagessen, sah ich sie dann, wie sie mit ihrem Ehemann, dem Botschafter der Republik Polen in Berlin, in eine schwarze Limousine stieg, die auf dem roten Teppich am Eingang vorfuhr. Dieser Moment hat sich in meinem Gedächtnis als einer der eindrücklichsten auf der ganzen Reise eingebrannt. Zunächst gab es vor dem Eingang des Palasts ein Durcheinander, Przyłębska wollte in eine Limousine steigen, die vor einem anderen Paar vorgefahren war. Ach, DA ist er, sagte sie, als der richtige Wagen vorfuhr. Sie öffnete lachend die hintere Tür und stieg ein, und dieses Lachen war es, das mich im Innersten traf. Es war ein mädchenhaftes Lachen. Przyłębska freute sich, es war für sie, wie ich in diesem Augenblick plötzlich zu spüren meinte, noch immer, auch nach drei Monaten nach ihrer Beförderung, etwas besonderes, hier vor dem Präsidentenpalast von ihrer eigenen Limousine, ihrem eigenen Fahrer abgeholt zu werden, nachdem sie beim polnischen Präsidenten gespeist hatte. Ich spürte, dass sie ganz bewusst in diesen Wagen stieg mit ihrem Ehemann, der nun auch hier war, mit dem sie es gemeinsam bis hierher geschafft hatte. Sie wirkte ungläubig, dass dies hier die Wirklichkeit war, dass sie nun hier wirklich stand und in den Wagen stieg, während draußen, auf der anderen Seite des Hofs und des Zauns Touristen und die Bewohner Warschaus vorbeigingen.
Ich fühlte ihren Stolz auf sich selbst in diesem Augenblick und den Unglauben über diese Entwicklung in ihrem Leben. Sie bekleidete plötzlich eine Stelle, auf die sie früher nicht einmal zu hoffen gewagt hatte. An diese emotionale Regung, die ich in diesem kurzen Moment von ihr ausgehen spürte, erinnere ich mich genau. Sie sagte viel mehr über das Wesen von Macht aus als jeder andere Moment auf dieser meiner Reise mit dem deutschen Präsidenten zum polnischen Präsidenten, als jede Begrüßung mit militärischen Ehren oder jeder Knicks eines Kellners beim Mittagessen im Präsidentenpalast. Dieses mädchenhafte, überraschte Lachen war das Lachen eines Menschen, der sich ehrlich über seinen beruflichen Erfolg freute. Es handelte sich um einen Erfolg, den sich die PiS jahrelang gewünscht, und um den sich ihre Anhänger von den Eliten aus den Kreisen der gazety wyborcza und des Runden Tisches betrogen gefühlt hatten.
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