Vom Selfie-Wahn bis zum personalisierten Kaffeepott: alles schön individuell, bitte. In der Abscheu vor dem Wir und den anderen zeigt sich unsere pubertäre Gesellschaft.
Ich habe weder einen Garten noch einen Balkon. Ich habe auch keine Pflanzen in der Wohnung. Das sei nur deshalb erwähnt, um klarzustellen, dass es für mich keinen, aber auch gar keinen Grund gibt, auch nur die Existenz eines Gartenbedarfsartikelfachgeschäft zu bemerken. Subjektive Wahrnehmung, die uns beobachtungslos durch den Alltag führt: Als Nichtraucher weiß man nicht, wo die Tabakläden im eigenen Viertel sind, und wer kein Haustier hat, dem fällt meist nicht auf, dass sich in der Straße nebenan Der Hundling oder Die Zierfisch-Oase findet. Letztens aber blieb ich doch, wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben, vor dem Schaufenster eines Garten-Centers stehen, Samenpäckchen, Schaufeln jeder Größe mit unterschiedlichsten Griffen im Schaufenster, ein gestreifter Liegestuhl auch, außerdem ein menschengroßer Blumentopf aus Plastik. Auf dem Topf ein Schild: „Hier können Sie Ihren Blumentopf individualisieren.“
Das war so ein Tag: Trump hatte sicherlich wieder getwittert, und noch sicherer waren Kinder in Syrien ermordet worden, im Mittelmeer kämpften Geflüchtete ums Überleben, überhaupt starben sehr viele Menschen, überall und aus unterschiedlichen Gründen, Kinder verhungerten, und Deniz Yücel saß immer noch in Haft. Währenddessen ließen sich andere, Garten- und Pflanzenliebhaber in dem Fall, ihre Blumentöpfe individualisieren. Mit Namen (dem eigenen oder dem der geliebten Pflanze, die möglicherweise Egon heißt, weil man hofft, die altertümliche Ironie dieses Namens erhebe einen über die Tatsache, dass man meint, seine Pflanzen benennen zu müssen) in eigens und mit aller Ruhe („Darf ich das in Avenir noch einmal sehen, aber dann in dem dunklen Blau?“) dafür ausgewählten Schriftart oder möglicherweise mit Bildchen. Hier erreichte meine Wie-Fantasie eine Grenze: Was für Bilder ließ man auf Blumentöpfe drucken?; das Warum hatte schon lang die seine erreicht.
Ich stellte mir so eine Wohnung, einen Balkon, eine Terrasse, eine Dachterrasse, einen Garten vor, in denen individualisierte Blumentöpfe standen. Ich stellte mir Brunch-Besucher der Gastgeber vor, die diese individualisierten Blumentöpfe kommentierten oder sich, stockend ob des Begutachtens, des Befremdens, des Fremdschämens, eines Kommentars enthielten. Ich versuchte mir vorzustellen, wie die Brunch-Besucher weder staunten noch sich schämten, sondern sofort in ein Gespräch über individualisierte Blumentöpfe verfielen, stolz von Kreationen auf dem eigenen Balkon berichteten oder sich nach einer Visitenkarte des Blumentöpfe individualisierenden Geschäftes erkundigten. Dazwischen wusste ich keine Antwort auf die Frage nach dem Huhn und dem Ei: War zuerst das Ich und dann die Einsamkeit gewesen oder war es genau andersherum?
Die Angst, nicht mehr Ich zu sein
Wann ist das passiert, dass der Zwang eines Wir – eines großen, gesellschaftsförmlichen; eines frei gewählten wie dem eines Fußballvereins, einer Pfadfinder- oder Tupperwarenparty-Gruppe oder eines den kleinen, natürlichen, verwandtschaftlichen Beziehungen wie einer Familie geschuldeten – so unerträglich wurde, dass das Ich nach Aufmerksamkeit zu schreien begann? Und nicht mehr damit aufhörte und immer lauter und immer breiter wurde und in auf alles gedruckten, in alles geprägten, eingemeißelten, eingravierten Buchstaben seinen Ausdruck suchte? Der Thermobecher mit Eigenbeschreibung („Der frühe Vogel kann mich mal“), die Grillzange mit Namen („Grillmeister Tom“), die Sneaker, die man sich im Onlineshop selbst designt hat („Start with a Color. Start with a material. Start with an Innovation.“) und alles andere auch, eben hin bis zum Blumentopf. Selbstexpression, die sich in jedem Alltagsdetail, in jedem tatsächlichen Gegenstand findet und die durch die persönliche, digitale Vermarktung (mit individuellem Filter fotografiert und mit eigenen Hashtags versehen, um so, perfekt und individuell ausgestattet, in den sozialen Medien präsentiert zu werden) ihre Wahrnehmung außerhalb des eigenen Ichs sichert. Und die Angst, es nicht mehr zu sein oder nicht mehr als solches wahrgenommen zu werden: ein Individuum.
In der Pubertät färbte ich meine Haare ein paar Monate lang grün. Das war, nachdem ich auf die Tür meines Zimmers „Bitte anklop-fen“ gesprüht hatte, das „-fen“ stand vereinsamt in der nächsten Zeile, es hatte nicht in die Türbreite gepasst. Das talentlose Sprühen war ein Versuch, eine Grenze zu ziehen zwischen meine Eltern und alles, was ich in ihnen sehen wollte. Aber das Blau und das Schwarz dieser Worte reichten nicht aus, damit ich mich selbst fühlen konnte, also kam das Grün in den Haaren hinzu, so stellte ich sicher, dass ich auch in der Schule auffiel, unter all den anderen, die wie ich Levi’s 501 und Turnschuhe trugen, und die ich in einem zur selben Zeit verfassten Gedicht als „schwarze Masse“ bezeichnete. Die grünen Haare wuchsen dann raus, wie ich auch aus der Levi’s rauswuchs und aus dem fanatischen Bestreben, mein Ich in Farben, Gedichten und sonstigen Individualisierungsdemonstrationen zu zeigen und vielleicht mehr noch zu fühlen. Man sagt dazu: Ich wurde (langsam) erwachsen. Langsam, es dauerte, und es dauert bis heute noch, dass ich lernte, mich aus dem familiären Wir nicht mehr erheben zu müssen, dass ich Teil dessen sein konnte, was meine Eltern waren, dass ich Stärke aus unseren Verschiedenheiten, Eigenheiten und Fremdheiten zu ziehen begann, anstatt demonstrieren zu müssen, dass ich vor allem eines bin: Ich. Dass ich sie stehen lassen konnte und mich und damit uns alle.
Erwachsene in der Dauerpubertät
In einer Gesellschaft, in der der Selbstausdruck eines Ichs zu einer permanenten Aufgabe, einer undifferenzierten Zurschaustellung, beinahe einem Zwang verkommt, in der das Ich nicht nur präsentiert, sondern optimiert werden muss auf so vielen Ebenen zugleich, geht das Wir automatisch verloren. Da ist keine Mitte, da ist nur die Pubertät. Wer sein Ich laut schreien muss, der hat keine Stimmbänder mehr, um im Wir gemeinsam zu rufen. Wer seine Individualität in sichtbaren Details wie Bekleidung (oder Bekleidung des Kindes, des Hundes, des Telefons) zeigen muss, meint vielleicht, in dem, was er denkt, fühlt, tut, das, was sein inneres Ich bewegt, nicht genügend erkannt zu werden; möglicherweise in einer Gesellschaft, die das Eigendenken zu wenig schätzt. Plakativ zusammengefasst heißt es, dass einem, der seinen Blumentopf individualisieren lässt, möglicherweise auch ganz einfach die Zeit fehlt, sich mit Menschen zusammenzutun, die ähnliche gesellschaftspolitische Ansichten haben – oder eben andere. Auch für das Gespräch, das Streitgespräch, ist zwischen personalisierten Weihnachtskugeln und Schlüsselbund mit Lebensmotto vielleicht kein Raum.
Das mag vereinfacht und überspitzt klingen und ist dennoch Teil der Antwort auf die Frage, warum all diejenigen, die sich in jeder Umfrage gegen Rassismus, Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit aussprechen würden, nicht so laut zu hören sind wie die, die sie gern „die anderen“ nennen, während sie „die Bösen“ meinen. Denn diese Strömungen – die rassistischen, die fremden- und frauenfeindlichen – richten sich nicht zuletzt gegen jede Art von Persönlichkeitsausdruck, der sich in einer anderen Glaubens-, Lebens- oder Weltanschauungsart zeigen könnte. Sie richten sich gegen all die Ichs, die sie nicht kennen und nicht kennenlernen wollen, sie richten sich gegen alles, was anders sein könnte. Und sie haben die perfide Masche perfektioniert, alle, die ihr Ich vielleicht nicht zeigen oder fühlen können oder befürchten, in der Masse der vielen verschiedenen Ichs verloren zu gehen, in einem Wir zu vereinen, das auf Hass und Ausgrenzung basiert. Es gälte, dem ein anderes Wir entgegenzusetzen, eines, das ebenso laut und sichtbar ist, eines, das aus Individuen bestehen dürfte, bei dem kein Austausch notwendig ist: Das Ich wird dem Wir nicht automatisch geopfert. Da würden jetzt viele nicken. Ein Nicken, ein zustimmendes Ja. Und dann verschwindet jeder in seiner eigenen Welt.
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