Eine Reise nach Sri Lanka kann zur Erfüllung werden. Das Geheimnis: Man darf sich nicht vorbereiten. Und man muss sich die Kultur des Ausweichens eine Lehre sein lassen.
Ich weiß nicht, warum ich neuerdings so gerne reise. Offenbar durchlebe ich gerade eine heiter-optimistische Phase, bekomme die Gelegenheiten und nutze sie, folge dem Ruf des Goethe-Instituts und mache regelmäßig die Erfahrung, dass ich zu wenig weiß.
Ich werfe mir das nicht im Geringsten vor, denn wir wissen nun mal von den meisten Dingen nicht viel, schon gar nicht, wenn man die wirklich fernen Länder besucht, obwohl das Problem genau genommen schon anfängt, wenn man die eigenen vier Wände verlässt, das Bett in diesen Wänden; im Grunde weiß man ja auch zu Hause allenfalls das Nötigste.
Ich gebe zu, dass mir dieses mein Nichtwissen gefällt.
Steht eine Reise an, mache ich nach Kräften so wenig wie möglich. Ich recherchiere das lokale Wetter und hole die dafür passende Kleidung aus dem Schrank, studiere aber keine Reiseführer und schaue mir auch keine Bilder im Internet an, sondern steige einfach ins Flugzeug. Dort überlasse ich mich vertrauensvoll dem Zyklus der Mahlzeiten, die es auf Fernreisen dankenswerterweise noch gibt, lese ein bisschen, warte auf den Schlaf und versuche mich rein innerlich als leeres Blatt zu betrachten, erwartungslos-erwartungsvoll, als wäre ich der Erste, der die Reise macht.
Natürlich ist es unmöglich, über einen Ort, eine Gegend, nichts zu wissen. Man weiß schließlich immer etwas, so man nicht als medialer Mönch lebt, kennt ein paar einschlägige Bilder und Ereignisse, wobei diese Art von Kenntnis in aller Regel katastrophisch ist und über die Zahl der Toten und Verletzten selten hinauskommt. In Sri Lanka herrschte dreißig Jahre Bürgerkrieg, es gab den schrecklichen Tsunami von 2004, das ist, was ich von Sri Lanka weiß; alle möglichen Leute absolvieren komplizierte Ayurveda-Abenteuer in Sri Lanka, jetzt, im Winter, herrschen dort angenehme Temperaturen um die dreißig Grad.
Es gefällt mir, dass Sri Lanka eine Insel ist, was dem bevorstehenden Aufenthalt etwas zuverlässig Kompaktes, Überschaubares gibt – ich meine, bei einer Reise ins benachbarte Indien wäre man ja sofort mit allen möglichen Uferlosigkeiten konfrontiert, und nach Uferlosigkeiten steht mir derzeit nicht der Sinn.
Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass mir die Insel gefallen wird, denn die Wahrheit ist: Mir gefällt es so gut wie überall, denn überall sind Menschen, die sich mühen und etwas versuchen, mit den überall gleichen Hindernissen und Hoffnungen und Tapferkeiten; ich halte die meisten Menschen nämlich für ziemlich tapfer, weil das Leben bekanntlich eine komplizierte Sache ist, mir der man eigentlich nie fertig wird, oder doch immer nur in dem Sinne, dass man sich bei allem Für und Wider einverstanden erklärt, es zu haben.
Die erste Woche sitze ich nur am Strand. Denn wer sagt eigentlich, dass man sich körperlich bewegen muss, um zu reisen; man kann auch einfach nur da sitzen und schauen, was da so ist, die fremden Tiere und Pflanzen begrüßen, den tropischen Himmel mit seiner unverwüstlichen Sonne, die hier, nahe dem Äquator, jahraus, jahrein nur zwischen sechs und sechs zu sehen ist, weshalb es sich empfiehlt, gleich bei Sonnenaufgang aufzustehen.
Das Quartier, in dem ich vorübergehend lebe, hat nicht nur eine Tauchschule, sondern auch eine Ayurveda-Station, deshalb herrscht den ganzen Tag kleiner Betrieb, den ich mehr oder weniger ignoriere, mir das Massagepaket mit fünf Anwendungen gönne, aber sonst nur lese oder eigentlich wiederum reise, mit dem ersten Roman von Leonard Woolf, denn der zu Unrecht vergessene Ehemann der berühmten Schriftstellerin hat vor gut hundert Jahren einen wunderbaren Sri-Lanka-Roman geschrieben: The Village in the Jungle – eine düstere Geschichte über den Überlebenskampf einer kleinen Dorfgemeinschaft irgendwo im Süden, über Verrat und Gewalt und die Grammatik des Hungers, der am Ende alle zu Verlierern macht und den Dschungel zum völlig gleichgültigen Sieger.
Leonard Woolf kannte Sri Lanka wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen; er war sieben Jahre Beamter der britischen Kolonialverwaltung, ein Kümmerer, der sich erfolgreich für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse im damaligen Ceylon aufgerieben hat und bei seiner Rückkehr nach England 1911 ein glühender Antikolonialist war. Wer etwas über die alltägliche Perversion des britischen Kolonialismus erfahren will, der lese seine meisterhafte Erzählung Pearls and Swine (dt. Perlen und Schweine) von 1921, die in ihrer Drastik und Leuchtkraft – es geht um das wahrlich ekelhafte Geschäft der Perlenfischerei – es mit jeder Virginia-Woolf-Erzählung aufnehmen kann.
Hat der Schrecken der Geschichte seine Lokalitäten erst mal verlassen – das kann man auch in Sri Lanka studieren –, kommt es zu überraschenden Beleuchtungseffekten: Die formellen und informellen Zentren ehemaliger Macht, die britischen Klubs und Hotels, oder was immer vom Empire übrig geblieben ist, erstrahlen plötzlich in musealem Glanz, sie werden, man möchte sagen, gemütlich; man hält sich nur allzu gerne darin auf, mit einem etwas unbehaglichen Staunen, als marschiere man durch alte Filmkulissen; die Dreharbeiten sind seit siebzig Jahren beendet, und so im sicheren Abstand der Jahrzehnte wird auf einmal alles ästhetisch.
Man möchte die ganze Zeit jubeln: über die Schönheit der Parks, die verschrobene Atmosphäre des Hill Clubs in Nuwara Eliya oder das Closenberg Hotel in Galle, wo das internationale Literaturfestival stattfindet, dessen Gast ich bin. (Und später der des sehr schön gelegenen Goethe-Instituts in Colombo).
Das Closenberg hat gerade mal sechzehn Zimmer, aber so viele Speise- und Aufenthaltsräume, Lese- und Raucherecken, dass zwei Hochzeiten gleichzeitig darin stattfinden könnten; und tatsächlich ist das Hotel bei Hochzeitspaaren, die sich fotografieren lassen wollen, eine sehr beliebte Location.
Nun sind ja Literaturfestivals so eine Sache. Das in Galle findet auf dem Gelände des von den Portugiesen und Holländern errichteten Forts statt, ist international besetzt; man spricht mit Akzenten aus aller Herren Länder englisch, absolviert über den Tag seine Workshops und Lesungen und tummelt sich dann des Abends auf festlichen Empfängen und literary dinners, wo es bei tropischen Nachttemperaturen die allerherrlichsten Currys zu essen gibt und man nicht weiß, in welcher Phase des britischen Kolonialismus man sich gerade befindet. Die Eintrittspreise für die Veranstaltungen sind nicht unbedingt für jedermann erschwinglich, aber dafür sind alle möglichen Botschafter mit ihren Gattinnen da, einmal der Premierminister mit Frau, die ganze postkolonialistische Blase, möchte man sagen, aber derartige Blasen gibt es schließlich auch bei uns.
Was den Zustand des Landes betrifft, geben sich die Blasenbewohner gemäßigt pessimistisch. Es gibt Korruption, es gibt das unverarbeitete Erbe des Bürgerkrieges mit Zehntausenden von traumatisierten Singhalesen und Tamilen, für die es kaum Hilfe gibt und die man angeblich irgendwo im Lande unter Verschluss hält. Demnächst sind Regionalwahlen, und tatsächlich sieht man überall im Süden Plakate mit den Tierlogos der Parteien, denen hoffentlich das eine oder andere einfällt; die Arbeitsbedingungen der meist tamilischen Teepflückerinnen, die ich ein paar Tage später in den Bergen zu Gesicht bekomme, sind ja weiterhin eine Schande.
Patrick, der nach der letzten Veranstaltung mein Fahrer ist und mich für ein paar Tage in die Berge bringt, sieht die Dinge eher optimistisch. Er stammt aus einer katholischen Familie, ist ein Jahrzehnt als Kommunikationsoffizier zur See gefahren und kutschiert nun Leute wie mich durchs Land.
An seiner freundlichen Besonnenheit könnte sich so mancher hierzulande ein Beispiel nehmen. Er ist alles andere als ein Freund des ehemaligen Präsidenten und Populisten Mahinda Rajapaksa, der gerade wieder an die Macht will, hofft auf den derzeitigen Premier, hält gute Politik für möglich.
Spirituell – denn auch darüber gibt er Auskunft – ist er ein toleranter Wechselbalg; er hat es nacheinander erst als Muslim und dann als Buddhist versucht, bevor er unter dem Eindruck eines Jesus-Films wieder beim Katholizismus gelandet ist, was ihn nicht daran hindert, weiterhin an die Wiedergeburt zu glauben.
Als Fahrer ist er ein Genie. Aber auch alle anderen Fahrer in Sri Lanka sind Genies und müssen das auch sein, egal ob sie einen indischen Bus oder ein buntes Tuk-Tuk, Lastwagen oder Pkw steuern, denn die Straßen in den Bergen sind eng und kurvig, es ist immer zu wenig Platz, und so kommt es regelmäßig zu abenteuerlichen Überholmanövern, Schwenks in letzter Sekunde, die aber niemanden aufregen, sondern im Gegenteil einer ebenso rasanten wie entspannten Kultur des Ausweichens zu entspringen scheinen.
Die Straße in Sri Lanka ist buchstäblich alles: Verkehrsweg, öffentlicher Raum, Marktplatz, Asyl für Straßenhunde und Tummelplatz für ganze Affenfamilien, deren Oberhäupter sich gerne mit Mangostücken füttern lassen und guruartig weise Gesichter dazu machen, dass man sich unweigerlich fragt, was sie in ihren früheren Leben so gesehen oder getrieben haben.
Wir passieren jede Menge Dörfer in diesen paar Tagen, die natürlich keine richtigen Dörfer sind, sondern Schneisen in die Reste des wuchernden Dschungels oder die hügeligen Teeplantagen, die äußerst lieblich anzusehen sind und die Namen britischer Städte tragen, mit riesigen weißen Buchstaben, fast so groß wie die von Hollywood.
Alles in allem war es dort oben, in den Bergen, so etwas wie paradiesisch.
Ich weiß, dass es das Paradies nicht gibt und niemals gegeben hat, dass es ein mieser Trick ist und man erst gar nicht danach zu suchen braucht, aber das ändert nichts daran, dass es weiterhin magische Momente auf diesem Planeten gibt, der Geschmack der ersten Ananas auf dem Weg nach Hatton oder am frühen Morgen der Blick von meinem Quartier in Ella bis weit ins Innere des Landes.
In gewissem Sinne reist man ja wahrscheinlich auch deshalb, um sich innerlich für die nächste Reise zu rüsten, zum Beispiel nach Indien, wie ich unweigerlich denke, denn ich möchte seit Jahren nach Indien oder weiter nach Japan, wo man – ich bin sicher – mit allen möglichen Fremd- und Interessantheiten zu rechnen hätte, obwohl man an den überall vorhandenen Fremdheiten doch immer nur schnuppert oder bestenfalls ein bisschen knabbert.
Aber das immerhin scheint mir auf Reisen möglich.
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