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Freiheit ist Papier

 

Das Internet ist kein Synonym mehr für Demokratie. Wer von Gleichheit, Protestkultur und mutigen Äußerungen träumt, muss sich vom digitalen Zeitalter verabschieden.

© Manolo Chrétien/Unsplash

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Erinnert sich noch jemand an die blauäugigen Tage, da eine vom eigenen Rechner verschickte E-Mail kein gerichtsfester Beweis dafür war, dass man selbst an diesem Mailwechsel beteiligt war? Weil „Dritte den Computer unter ihre Kontrolle gebracht“ haben könnten? Erinnert sich noch jemand an den wunderbaren Begriff des Avatars? Der den Autor vom elektronischen Erzähler unterschied? Erinnert sich noch jemand, wie wir im LiveJournal-Zeitalter, noch bevor die Ära der totalen digitalen Sklaverei anbrach, unseren Alter Egos im Netz fiktive Nicknames gaben? Damit sich niemand über die literarischen Versuche unserer Avatare mokiert? Das war doch erst gestern, ist vielleicht läppische zehn Jahre her!

Wer weiß noch, wie schockiert wir waren, als Facebook erstmals mit strenger Stimme verlangte, eine gültige Handynummer zur Bestätigung unseres Kontos anzugeben? Und wie dann die E-Mail-Konten nachzogen, die Tablets und Notebooks? Liberale Technologiefans, die mit dem Durchbruch des Internets den Beginn eines wunderbaren Zeitalters der Freiheit gepredigt hatten, können sich heute schon die Asche der im Überschwang verbrannten Zeitungen und Zeitschriften aufs Haupt streuen.

Wir waren freier vor zwanzig Jahren. Freier als heute. Ja, vor dem Aufkommen von „Interaktivität, Digitalität und Konvergenz“ konnten wir keine Kommentare unter Artikeln hinterlassen. Aber was ist die Freiheit wert, sich zu einem Thema oder über einen Autor zu äußern, bei Facebook einen Link zu setzen, wenn du für dieses Recht bestraft oder eingesperrt werden kannst? (In Russland gibt es Haftstrafen für Repostings, in Belarus wurde das Mediengesetz geändert, das nun Haftbarkeit bei Kommentaren und die Möglichkeit zur SMS-Identifizierung Kommentierender vorsieht).

Wie Google uns einschätzt

Aber mir geht es hier nicht um „Länder mit Defiziten bei der Freiheit des Wortes“. Mir geht es um die Technologien. Das Level der Freiheit des Wortes ist eine variable Größe. Rechtsruck, militärische Auseinandersetzungen, ein selbstherrlicher Charismatiker am Ruder – es gibt eine Vielzahl Faktoren, die die Regierung eines freien Landes dazu bewegen können, in die (zeitweise) Unfreiheit zu gehen. Wichtig ist dabei, dass Google und Facebook (im Unterschied zu Netscape oder dem guten alten LiveJournal) diesen Regierungen ungewollt zu Diensten sind.

Die berüchtigten big datа sind nur die Spitze des Eisbergs und noch der unschuldigste Teil dessen, was die neuen Medien uns antun können. Hier geht es ja um Unmengen strafrechtlich irrelevanter Daten, etwa um psychotische Persönlichkeitsmerkmale. Schauen wir uns dagegen Google an: Das Unternehmen ist 2009 vom PageRank-Algorithmus zur personalisierten Suche übergegangen, die sich daran orientiert, wie Google die jeweilige Person einschätzt (weshalb akribisch unsere sämtlichen Schritte im Netz dokumentiert werden). Für Menschen, die ein ausgeprägtes professionelles Interesse an unserer Person haben, ist es ein Leichtes, herauszufinden, wie Google uns einschätzt. Wie bitte? Computerbesitzer sind bislang nicht für E-Mails zur Verantwortung gezogen worden, die von ihrem Rechner aus versendet wurden? In Russland ist im April Dmitri Tretjakow verhaftet worden, ein Fall von Hunderten, gegen den ein Prozess angestrengt wurde wegen des Reposts aus einem Telegram-Chat von Nawalny-Anhängern.

Erinnert sich noch jemand, wie vor 20 Jahren die Liberalen freudig erklärten, es gebe „keine Grenzen mehr“ und wir lebten nun alle im „globalen Dorf“ nach McLuhan und Castells? Und dass wir deshalb alle gleich seien? Nun richten sich die Grenzen allmählich nach den nationalen Strafgesetzbüchern aus. Der neue Huntington lautet: Hier ist Europa, wo man für Telegram-Reposts (vorerst) nicht verknackt wird, dort ist Russland, wo das schon anders aussieht. Hier ist das chinesische Internet, in dem Facebook verboten ist, dort das ukrainische, in dem sich die russische Suchmaschine Yandex nicht öffnen lässt.

Vorliegende Sendung ist beschädigt eingegangen

Spezialisten könnten nun einwenden, es gebe ja noch das Darknet und das anonyme Tor-Netzwerk. Aber das ist es ja gerade: Östlich von Warschau ruft schon das Vorhaben, sich die Tor-Software herunterzuladen, die professionell Interessierten auf den Plan. Wer keine Panzer in den Sudan liefert und kein illegales Bordellnetzwerk betreibt, lässt vom Darknet besser die Finger. Wer es nutzt, um unbeobachtet mit seiner Freundin zu kommunizieren, kann auch gleich mit Guy-Fawkes-Maske zu einer Kundgebung gehen und darauf hoffen, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Je kleiner der Anonymitätsradius im einst vollkommen freien Netz wird, desto eifriger bekämpfen die Regierungen die letzten noch nicht kontrollierten Inseln. Das komplette Verbot des Messengerdienstes Telegram in Russland wäre ein gewaltiger Schlag.

Das Internet ist kein Synonym mehr für Freiheit. Avatar und Autor sind eins geworden, Letzterer trägt dabei die volle Verantwortung für alles Tun und Lassen des Ersten. Wer von allgemeiner Gleichheit und mutigen Äußerungen träumt, sollte nicht an die Zukunft denken, sondern sich an die Vergangenheit erinnern. Sicher, auch Briefe lassen sich leicht öffnen und überprüfen (ich weiß nicht, wann ich zuletzt einen Brief von meinen Verlegern im Ausland bekommen habe, der nicht geöffnet, eingesehen und anschließend mit Stempel zugestellt wurde: „Vorliegende Sendung ist beschädigt eingegangen beim Amt für Postverkehr Minsk AMU PI-2 und wurde mit behördeneigenem Klebeband nachverpackt“, was auch immer dieses „Minsk AMU PI-2“ bedeuten mag).

Aber wenigstens greifen beim Briefwechsel auf Papier keine Suchalgorithmen. Da muss man reinlesen und Handschriften entziffern, während SMS oder Mails einfach durch die Schlagwortfilter geschickt werden. Ein handgeschriebener Brief lässt sich nicht mit copy+paste vervielfältigen und mit einem Klick an 20 zusätzliche Empfänger verschicken. Seine Inhalte sind deutlich besser geschützt als elektronisch vorliegende Texte.

Regimefeindlichkeit herausfiltern

Durch die Verschmelzung von Autor und Avatar ist das Modell „Tahrir“ unmöglich geworden. In den vergangenen sieben Jahren wurde für jeden, der per Twitter die Leute auf den Platz ruft, in den Strafgesetzbüchern von Staaten mit Revolutionsangst ein maßgeschneiderter Paragraf ergänzt. Mit Flugblättern hat man komischerweise weitaus größere Chancen, unerkannt zu bleiben. Schon bald wird die Welt von der Twitter-Revolution zurückkehren zum „Gutenberg-Protest“. Ich male mir schon eine Aktion von Occupy Wall Street aus, bei der die Hipster über Sticker in den Cafés zusammenfinden, in denen sie ihren Erdbeer-Frappuccino schlürfen. In den sozialen Netzwerken, die noch die zartesten Anfänge von Regimefeindlichkeit herausfiltern können, herrscht unterdessen Totenstille.

Die Freiheit beschränkt sich auf die analoge Welt: Anrufe auf Festnetztelefone und Briefe auf Papier. Hundegebell ist ein Frühwarnsystem, das sich nicht knacken und ausschalten lässt. Wenn du deine Zeitung auf Papier liest, liest sie zumindest nicht gleichzeitig dich.

Seite dem 13. Jahrhundert, seit der Magna Carta Libertatum, steht das griechische χάρτης als Gleichheitszeichen zwischen „Papier“ und „Freiheit“. Die Erklärung der Rechte und das Trägermedium, auf dem sie geschrieben wurden, waren im Bewusstsein der Menschen identisch.

Das Netz hat uns dieser Erinnerung beraubt.

Höchste Zeit, sie uns zurückzuholen.

 

Aus dem Russischen von Thomas Weiler