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Dataschock

Das vielköpfige Kollektiv aus Saarlouis improvisiert seinen psychedelischen Krautrock live im Westwerk. Außerdem dabei: Pretty Lightning und Jetzmann.

Einen krasseren Kontrast zum Reeperbahnfestival kann man sich gar nicht geben (es sei denn, man geht am Freitag, den 19. September zum Death-Metal-Fest ins Bambi Galore). Jenseits des allgemeinen Trubels auf dem Hamburger Kiez findet im Westwerk ein Musik-Abend statt, der dem gewöhnlichen Pop-Mob ein Greuel wäre. Improvisation steht auf dem Programm: Dataschock sind eine 8- bis 10-köpfige Gruppe aus Saarlouis, die sich der krautrockartigen Improvisation verschrieben haben und bei ihren Auftritten auch mal das Publikum in das Musizieren miteinbezieht – kollektive Freak-outs nicht ausgeschlossen. Vorher spielt die Dataschock-Splittergruppe Pretty Lightning ihren psychedelischen Heavy Blues mit Bass und Schlagzeug. Dritter im Bunde ist an diesem Abend der Hamburger Jetzmann, der seinen Instrumenten und Maschinen improvisierte Loops und außergewöhnliche Rhythmen entlocken wird.

 

Kunst @ Kiez

Gehäkelte Mikrofone, Live-Siebdruck und eine Schule für Straßenkunst: Rund ums Clubfestival bieten 38 Kreativstationen etwas fürs Auge.

Einmal bitte nicht nur die Ohren, sondern auch die Augen aufsperren: Diverse urbane Künstler und Institutionen nutzen das Reeperbahn Festival, um sich zu präsentieren. So auch der Verein mit dem formschönen Namen Street Art School St. Pauli Karo Schanze, der seine Räumlichkeiten in der neuen Rindermarkthalle (Eröffnung, 18.9.) ab 15 Uhr für den Publikumsverkehr freigibt. Im Selekta Reggae Record Shop an der Bernhard-Nocht-Straße stellt Kiezfotograf Frank Egel unter dem Titel Catch of the day sein Fotologbuch der Nachbarschaft vor. In der Textilmanufaktur Frohstoff (Foto) wird man gar selbst zum Künstler, wenn man T-Shirts und den Jutebeutel nach dem Siebdruckverfahren mit bunten Reeperbahn-Monstern veredelt (12-19 Uhr, 5 Euro pro Druck). In der Galerie weissraumhamburg in der Wexstraße sind einige Mitglieder der Schlumper zu Gast und zeigen ab 15 Uhr unter anderem Figuren der Popkultur aus Keramik und gehäkelte Mikrofone. Und dies sind nur vier von 38 Kunststationen.

Text: Lena Frommeyer

 

Incantation

High Speed und Präzision: Fünf Gruppen aus Chile, Brasilien, Mexiko und den USA lassen das Bambi Galore in Death Metal versinken.

Einen krasseren Kontrast zum Reeperbahnfestival kann man sich gar nicht geben (es sei denn, man geht am Freitag, den 19. September, ins Westwerk): Jenseits des allgemeinen Trubels auf dem Hamburger Kiez findet im Bambi Galore ein Musik-Abend statt, der dem gewöhnlichen Pop-Mob ein Greuel wäre. Metal steht auf dem Programm, und zwar in seinen extremen Ausformungen: Schon die Namen der fünf Bands – Incantation, Funerus, Unaussprechlichen Kulten, Incarceration, Zombiefication – sind ein Spaß. Was dem Publikum bevorsteht? Traditioneller Death Metal aus den USA, Chile, Brasilien und Mexiko; Nieten, Kutten und Kruzifixe; Geballer, Gedröhn, Gegrunze und Gebrüll vom Feinsten; sportliche High-Speed-Raserei gepaart mit virtuoser Präzision. Noch Fragen? Na, dann auf zum „Awaking Corpses“-Festival Teil 3 nach Billstedt.

 

„Heroinshorle dreifuffzig“

Öffentlich wahrgenommen wird die Heroinszene kaum. In einer Off-Theaterproduktion geht man der Frage nach, was für eine Rolle die Droge noch spielt.

Kaum einer, der nicht einmal Wir Kinder vom Bahnhof Zoo gelesen hat. Kaum einer, der rund um die 1980er Jahre im Hamburger Stadtteil St. Georg unterwegs war und nichts von der dort ansässigen Drogenszene bemerkt hat, zu der Zeit nicht regelmäßig etwas über Herointote in den Zeitungen las. Doch die Veröffentlichung des Buches ist lange her, auf den Straßen rund um Hamburgs Hauptbahnhof beobachtet man heute immer noch ein buntes Treiben, doch kaum noch offene Dealerei. Das Doku-Theater Heroinshorle dreifuffzig – von Drachenreitern und Affentötern, das die freie Produktionsgruppe no budget unter anderem gemeinsam mit der Hamburger Drogenhilfe-Einrichtung Palette e. V. entwickelt hat, nimmt sich der Fragestellung an, was mit der Szene passiert ist. User, Sozialarbeiter, Polizisten und Politiker erzählen rückblickend von ihren Erfahrungen mit Sucht und Beschaffungskriminalität. Es geht um die Frage, was Heroin heute noch für eine Rolle in der Gesellschaft spielt, im Vergleich zu anderen Drogen, im Blick auf andere Großstädte – versteckt und offen. Gemeinsam mit Menschen, die in ihrem Leben aus den verschiedensten Perspektiven mit der Droge gelebt und gekämpft haben, entsteht so eine theatralische Analyse.

Text: Miriam Mentz

 

Blick nach Dortmund

Hamburg-Premiere von Ulrike Frankes und Michael Loekens Langzeitdokumentation über den Strukturwandel in einem Stadtteil im östlichen Ruhrgebiet.

In einem Dortmunder Stadtteil, der jahrzehntelang von der Industrie geprägt war, begannen im September 2006 die Bauarbeiten für ein ehrgeiziges Projekt: Auf dem ehemaligen Gelände eines Stahlwerks von Thyssen Krupp entstand der Phoenix-See – inklusive hochwertiger Wohnbebauung an seinen Ufern. Die neuen Häuser mit Seeblick sind für jene Menschen, die hier bisher lebten, unerschwinglich. Göttliche Lage – Eine Stadt erfindet sich neu von Ulrike Franke und Michael Loeken, die den Strukturwandel in Dortmund bereits in ihrem Film Losers And Winners thematisierten, ist die Langzeitbeobachtung eines komplexen Projekts, mit all den Problemen und auch Möglichkeiten, die sich ergeben. Die Filmemacher begleiten das Wohnen und Leben nach dem Wandel von der Industrie- zur Freizeitgesellschaft und lassen teilhaben an einem sozialen Experiment, das noch lange nicht abgeschlossen ist. Eine gute Gelegenheit, um über den Hamburger Tellerrand hinauszublicken – auf Verdrängungsprozesse in einer anderen Stadt.

 

„Time To Get Ill“

Das Kunstprojekt „Krankheit als Metapher. Das Irre im Garten der Arten“ startet mit einer Filmreihe im Golem abseits klassischer Wehwehchen.

Wie die Gesellschaft Krankheit psychologisiert, sie zum selbstverschuldeten Defizit erklärt, wie sie Depressionen stigmatisiert und wie durchlässig die Grenze zwischen gesund und krank gerade in diesem Bereich ist, damit beschäftigt sich das internationale Kunstprojekt Krankheit als Metapher der Kuratorin Britta Peters. Hochaktuell und spannend ist das Thema, das den immer stärkeren Zwang zur Selbstoptimierung beleuchtet und das moderne Ideal der Selbstständigkeit, das neben Flexibilität, permanenter Erreichbarkeit und Arbeit ohne Dienstschluss zudem immer mehr Kreativität fordert, mehr Eigenverantwortlichkeit – und eben immer mehr Opfer. In einem Symposium, in Ausstellungen, Performances und Arbeiten im öffentlichen Raum wird der Wertewandel beleuchtet – und in einer Filmreihe, die Uwe Lewitzky, Leiter der Sammlung Falckenberg, zusammengestellt hat. Time To Get Ill heißt es im Golem drei Monate lang jeden Donnerstag – in einem Programm, das sich abseits klassischer Blinddarmentzündungen um Befindlichkeiten dreht, die genauso akut, aber schwerer zu lokalisieren sind – oder eben gar nicht. Das Programm reicht von der Dokumentation In the Realms of Unreal am 18. September über den „Outsider“-Künstler Henry Darger zu Christoph Waltz’ Kinodebüt Kopfstand (Foto) von 1981, in dem er nach einer Kurzschlusshandlung seiner Mutter in einer psychiatrischen Anstalt landet.

Text: Sabine Danek

 

„Mezzogiorno“

Der Hamburger Künstler Filomeno Fusco zeigt in seiner Mixed-Media-Installation Aufnahmen aus dem Süden Italiens. Da trifft Idylle auf Müllberge auf knutschende Pärchen.

Die Mixed-Media-Installation von Filomeno Fusco, die am 18. September eröffnet wird, kreist um eine Familie im Mezzogiorno, in Süditalien, und ihren immergrünen Haselnusshain. Einst sollte hier eine Tankstelle entstehen, eine Umgehungsstraße gebaut werden. Doch sie wurde nie fertig und heute zeugt ein kilometerlanger Asphaltstreifen von ihr, der sich quer durch die bergige Landschaft zieht – und an der nur nachts Verkehr herrscht, wenn die Menschen ihren Müll dort entladen oder junge, unverheiratete Paare sich im vermeintlichen Schutz der Nacht und ihrer Autos treffen, um den strengen Regeln ihres katholisch geprägten Elternhauses zu entfliehen. Es ist ein Ort am Ende der Welt – Transit und Globalisierung haben hier ihre Spuren hinterlassen. Und doch ist er stark verwurzelt geblieben in der Tradition von Kirche und Bauernarbeit. Die Ausstellung läuft bis zum 28. September.

 

„The Story Of Pop“

Beim Reeperbahn Festival dreht sich alles um Musik – auch in der Literatursparte. Unter anderem liest Journalist und Pop-Musik-Geek Karl Bruckmaier.

Wenn man Reeperbahn Festival hört, denk man zuerst an Konzerte. Aber auch anderen Kulturdisziplinen bietet das Clubfestival eine Plattform, so lange sie nur irgendwie mit den Themen Musik oder Popkultur in Zusammenhang stehen. So finden sich Kunst, Filmvorführungen und auch Innovatives der schreibenden Zunft im Programm.

KarlBruckmaier

Karl Bruckmaier (Foto: Wilfried Petzi) kennt sich mit populärer Musik und Jazz gut aus und verdient als Journalist sein Geld. Genau – das ist der Typ, der die Pop-Kolumne in der Süddeutschen Zeitung schreibt. In diesem Jahr erschien sein Buch The Story Of Pop, in dem er Brücken zwischen Genres baut, Helden und Antihelden personifiziert und „das Lebensgefühl beschreibt, das im Pop seinen Ausdruck findet“. Der Autor liest am 18. September im Clubheim St. Pauli.

Ein weiterer Literaturtermin, der allen mit einem Festivalticket ans Herz gelegt sei, ist die Vorstellung der Street-Art-Lektüre Free OZ!, in der es um Hamburgs bekanntesten Sprayer Walter Josef Fischer geht. Diskutiert wird über ihn und sein Verhältnis zur Justiz am 19. September im B-Movie. Einen Tag später präsentieren die Autorin Kathrin Weßling, der Clubkinder-Vater Jannes Vahl und die Poetry-Slammerin Johanna Wack in ihrer Lesung Love & Hate Mail die besten Kommentare, die sie aus den Tiefen des Internets herausziehen konnten – ab 17.15 Uhr in der Festival-Lounge.

Text: Lena Frommeyer

 

The Ruts DC

Babylon muss (immer noch) brennen: Das legendäre Post-Punk-Quartett aus London gastiert im Hafenklang. Support: Goodbye Jersey aus Hamburg

Sie wirkten eigentlich nur fünf Jahre lang, von 1978 bis 1982, und doch war ihr Einfluss immens. Sie traten bei Rock against Racism-Festivals auf und wendeten sich offen gegen die rechtsextreme British National Front. Der größte Hit der Ruts hieß Babylon’s Burning und fand sich im Jahr 1979 sogar auf dem 7. Platz der UK-Single-Charts wieder. 1980 starb Sänger Malcom Owen an einer Überdosis Heroin. Danach benannte sich die Band um in The Ruts DC (DC = da capo). Doch aus dem Neuanfang sollte nichts werden. Drei Jahre später löste sich die Band auf. Es folgten Live-Alben, Compilations aus der Frühphase, Tribut-Alben und Best-of-Zusammenstellungen, die die Erinnerung an das stilprägende Post-Punk-Quartett wach hielten. 2007 war es dann soweit: Zugunsten des an Lungenkrebs erkrankten, zweiten Sängers, Paul Vox, reformierte sich die Gruppe für einen Auftritt mit Henry Rollins als Frontmann. Seitdem sind die Überreste der Original-Ruts, Bassist John Jennings und Schlagzeuger Dave Ruffy, wieder regelmäßig unterwegs. Die diesjährige Tour führt sie einmal mehr in den Hafenklang.

 

Reeperbahn Festival

Verdammt viele Newcomer: Eine musikalische Entdeckungsreise mit großem Rahmenprogramm zieht einen von Club zu Club zu Club zu Club…

Der Kiez platzt aus allen Nähten: Wie bereits 2013 findet das Reeperbahn-Festival dieses Jahr an vier statt der gewohnten drei Tagen statt. Anders kriegt man die Fülle an Bands auch nicht unter – nicht einmal bei der Clubdichte auf dem Kiez. Das ist der Reiz des mittlerweile etablierten Clubfestivals – die Schneise, die man sich durch das Überangebot an Kunst und Künstlern schlägt, gehört einem am Ende ganz allein. Das Reeperbahn-Festival will vor allem Newcomer vorstellen: Darum sind die großen Namen, die im Programm auftauchen, eher Anfütterung als die wirkliche Hauptattraktion. Mit Blood Red Shoes, The Subways, Tina Dico oder Egotronic hat man wie immer Publikumslieblinge mit an Bord, doch der Spaß liegt im Entdecken: Die auf der Bühne eskalierende Fat White Family, Englands neueste Punkrock-Hoffnung, sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen, die Hamburger Vintage-Souler Rhonda genauso wenig (beide 20.9., Knust). Der Part der alten US-Indie-Recken, der in den vergangenen Jahren von Bands wie Dinosaur Jr. oder Built To Spill übernommen wurde, wird dieses Jahr Blonde Redhead zuteil. Weitere Highlights des Festivalprogramms: Angel Olsen, Bored Nothings, Cold Specks, Die Höchste Eisenbahn, Hozier, Lambert, Jens Friebe, Team Me – und viel zu viele, um sie aufzuzählen. Support your local bands: Am ersten Abend bevölkern Kapelle Herrenweide die Spielbude.