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Die Weltwirtschaft am Rande des Abgrunds?

 

Die globale Makro-Debatte über den Zustand der Weltwirtschaft kreist seit Ende der 90er Jahre um das ausufernde Leistungsbilanzdefizit Amerikas. Es wird nach der Schätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) dieses Jahr den Rekordstand von 760 Milliarden Dollar erreichen. Das sind 6,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Vereinigten Staaten. Dem stehen die Überschüsse Japans, der aufstrebenden Ländern Asiens (vor allem Chinas), des mittleren Osten, Russlands und Deutschlands gegenüber. Die Vereinigten Staaten sind so zum größten Nettoschuldner der Welt geworden. Die Nettoauslandsposition belief sich Ende 2004 auf sensationelle minus 2,5 Billionen Dollar. Das sind mehr als 20 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsproduktes (BIP). Unter allen Volkswirten besteht Einigkeit, dass diese Entwicklung nicht bis in alle Ewigkeit aufrecht zu erhalten ist. Unvorhersehbar dagegen ist, wo und wann die Grenze erreicht ist, bei der die Finanzmärkte oder die Wirtschaftspolitik die Wende einleiten. Ebenso wenig klar sind die konkreten Folgen, die dies für die Weltwirtschaft haben wird. Wie in der Zeit des Börsenbooms um die Jahrtausendwende geht es wieder um die Frage, ob es eine harte oder weiche Landung geben wird. Damals war die Landung hart. Diesmal könnte sie härter werden, denn es steht nichts geringeres als die Leitwährung auf dem Spiel.

Aus diesem Grund wird HERDENTRIEB unter der Kategorie „Die globale Makro-Debatte“ die Diskussion verfolgen, Wissenswertes zu Leistungsbilanzsaldo, Investitionen und Ersparnis, zu Wechselkursen, Zinsen und Anpassungsszenarien einstreuen und auf wichtige Beiträge hinweisen.

Worum geht es?

In einem Leistungsbilanzdefizit drückt sich das Zusammenspiel einer Vielzahl sich gegenseitig beeinflussender Faktoren aus. Das macht die Einschätzung, ob eine bestimmte Entwicklung eine krisenhafte Veränderung hervorrufen wird oder nicht, extrem schwierig. Die Asienkrise 1997/98 ist ein warnendes Beispiel. Sie traf die Welt angefangen bei den Verantwortlichen des IWF über die Ratingagenturen bis hin zu den Notenbanken völlig überraschend.

Zwar lassen sich die Umstände, die damals bei den betroffenen Ländern zur Zahlungsbilanzkrise, zum Verfall ihrer Währungen und zu tiefer Rezession führten, nicht mit der heutigen Situation in den USA vergleichen. Zwei Lehren lassen sich trotzdem ziehen: Erstens, dass genaues Hinsehen und ein Bewusstsein für mögliche Konsequenzen unabdingbar ist. Zweitens, dass die internationalen Finanzmärkte nicht notwendig von sich aus in der Lage sind, potentielle Risiken so einzuschätzen, dass die Katastrophe verhindert werden kann.

Die heutige Situation, die als ‚global imbalance‘ (‚globales Ungleichgewicht‘) bezeichnet wird, ist um ein vielfaches komplexer als die Problematik hoher Leistungsbilanzdefizite von Entwicklungs- oder Industrieländern in früheren Zeiten. Für das Defizit der USA spielen nicht nur inländische Faktoren, wie die geringe private Sparquote oder das Haushaltsdefizit der amerikanischen Regierung eine Rolle, sondern wesentlich auch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und die Wirtschaftspolitik in den Ländern und Regionen, die hohe Überschüsse aufweisen. Es handelt sich also um ein wahrlich globales makroökonomisches Problem. (Einen Hinweis auf die globale Schieflage gibt die ungleiche Verteilung der Leistungsbilanzsalden.)

Wie immer man die Lage einschätzen mag, die Unsicherheit über die künftige Entwicklung und das Potenzial einer ernsthaften Störung der Weltwirtschaft sollten ausreichen, zumindest Vorkehrungen für den Ernstfall zu treffen. So könnten die Regierungen und Notenbanken der betroffen Länder und Regionen Anstrengungen unternehmen, zu einer gemeinsamen Einschätzung und entsprechender Koordination ihre Wirtschaftspolitik zu kommen. Wie dies unter anderem Edwin Truman fordert. Auf der ECB-Watcher-Konferenz des Center for Financial Studies, in Frankfurt, im Sommer 2004 hat Truman diesbezüglich klare Worte gefunden:

„I do not have in mind communiqué platitudes about smooth adjustment, noninflationary growth, or the avoidance of excessive exchange rate volatility. What one might envisage would be actual concrete commitments with respect to policies in pursuit of common objectives.“ (zur Rede)

Selbst der ehemalige Chefvolkswirt des IWF und renommierte Wirtschaftsprofessor Michael Mussa, nicht gerade bekannt als Freund einer aktiven Wirtschaftspolitik, schätzt die Risiken, die mit einer unkontrollierten Abwertung des Dollar verbunden sind, so hoch ein, dass

„… if the dollar fell precipitously and to an extent that appeared to be a significant threat to economic performance and/or financial market stability, then the official sector should act forcefully, in a clear coordinated manner, to resist unduly rapid dollar depreciation. Channels of communication and the mechanism of international cooperation that would support such an emergency operation should be kept in working order.“ (zum ganzen Text)

Bisher ist von den Regierungen und Notenbanken der G7 wenig zu hören, was über die, wie Truman sich ausgedrückt hat, ‚Kommunique Plattitüden‘ hinausgeht. Im Gegenteil es ist eher so, dass der Schwarze Peter hin und her geschoben wird. Und die eigenen Möglichkeiten, zum Abbau des Ungleichgewichts beitragen zu können, werden herunter gespielt. Diese ‚Abwarte‘ Haltung könnte sich als fatal erweisen. Wenn die Herde erst einmal losrennt, ist es zu spät.

In den nächsten Tagen wird auf HERDENTRIEB die Spannweite der Einschätzungen in der Wissenschaft und von offizieller Seite dargestellt.