Zwei Tage in Folge habe ich den Worten von zwei der wichtigsten Notenbanker des Eurosystems gelauscht. Am Dienstag Axel Weber, dem Bundesbankpräsidenten, und gestern Abend Lorenzo Bini-Smaghi, dem italienischen Direktor der Europäischen Zentralbank. Beide reden weiteren Zinserhöhungen das Wort. Das ist nichts Neues. Was mich umtreibt, ist das geldpolitische Modell, das die Herren im Kopf haben. Hier der spekulative Versuch, zu verstehen, wie die EZB zur Zeit tickt. Ich fürchte, gerade ist ein altes geldpolitisches Konzept schwer auf dem Vormarsch: der natürliche Zins. Die Zwei-Säulen-Strategie hätte defacto ausgedient. Sollte ich mich nicht irren, steigt der EZB-Zins mindestens auf 4,25, wenn nicht auf 4,50 Prozent, wenn die Wirtschaft Eurolands dieses und nächstes Jahr so wächst wie vermutet, also um rund 2,5 Prozent.
Zwei Dinge irritieren die europäischen Geldpolitiker: zum einen das überraschend starke Wachstum, das – wie es scheint – ohne Inflationsgefahren daher kommt. Zum anderen die weltweit niedrigen Zinsen, die günstigen Finanzierungskonditionen, die Übertreibungen an den Finanzmärkten Vorschub leisten, abzulesen zum Beispiel an den historisch sehr niedrigen Risikoaufschlägen für Unternehmensanleihen, Anleihen aus Schwellenländern, oder auch an den hohen Aktienkursen an einigen Märkten.
Die Debatte, ob die laxe Geldpolitik nach dem Platzen der Tech-Blase Anfang des Jahrtausends an anderen Märkten Blasen provoziert hat, ist eine alte. Doch wie soll eine Notenbank auf Blasen reagieren, die sehr schwierig im Vorhinein als solche zu identifizieren sind? Soll sie sie mit höheren Zinsen anpieksen? Diese Auffassung teilen weder Weber noch Bini-Smaghi. Sie maßen sich nicht an, eine Blase als solche zu identifizieren, geschweige sie anzustechen. Und das ist auch richtig so. Dennoch fürchten sie um die Stabilität des Finanzsystems, sorgen sich um die hohe Verschuldung von Private Equity, Hedgefonds und Haushalten, die alle dank niedriger Zinsen sehr locker mit neuen Krediten und hohen Verschuldungsgraden umgehen.
Das starke und dennoch auf den ersten Blick inflationsfreie Wachstum wiederum bereitet ihnen auch Sorge. Denn es macht weitere Zinserhöhungen kompliziert. Würden all die Potenzialwachstumsrechnungen stimmen, dann müsste ein Wachstum über Potenzial ja eigentlich Inflation heraufbeschwören. Dann könnte man mit gutem Recht die Zinsen anheben. Das passiert aber gegenwärtig nicht. Kann es sein, dass ein positiver Produktivitätsschock Euroland ergriffen hat und das Potenzialwachstum viel höher ist? Kann es sein, dass die Potenzialberechnungen nicht das Papier wert sind, auf dem sie kalkuliert werden? Wenn dem so wäre, dann funktioniert die Taylor-Rule nicht, von der die EZB nie zugeben würde, dass sie sie verwendet. Die sich aber hinter der ersten Säule ihrer Geldstrategie versteckt.
Was tun? Die EZB könnte jetzt natürlich wie Alan Greenspan Mitte der 90er Jahre einfach eine lockere Geldpolitik betreiben. Der alte Fed-Chef hatte damals geahnt, dass es einen positiven Produktivitätsschock in Amerika gegeben hatte und mit seiner lockeren Geldpolitik das Wunder am Arbeitsmarkt vollbracht. Er hat die „natürliche Arbeitslosigkeit“ von sechs auf unter vier Prozent gedrückt, ohne dass es inflationären Druck an den Gütermärkten gegeben hätte. Doch vielleicht hat Greenspan mit dieser lockeren Geldpolitik parallel Blasen an den Finanzmärkten produziert?
Das glauben ganz tief im Inneren ihres Herzens die Herren Weber und Bini-Smaghi. Und die EZB wäre nicht die EZB, wenn sie dieses Risiko eingehen würde. Lieber mehr Arbeitslose als eine noch höhere Instabilität im Finanzsystem, mögen sie denken.
Deshalb ist ein neues, altes geldpolitisches Konzept im Frankfurter Euro-Tower auf dem Vormarsch: Der natürliche oder auch neutrale Zins. Darüber hat sich als erster Knut Wicksell, der schwedische Ökonom, vor 100 Jahren ausgelassen.
Erstmals nahm Weber im September vergangenen Jahres das Wort „natürlicher Zins“ in den Mund, um uns EZB-Beobachtern zu erklären, wie er denkt. Und auch gestern Abend bei Bini-Smaghi hatte ich den Eindruck, als wenn er dem Konzept sehr nahe stünde.
Damit müssten wir umdenken: Weder die Geldmenge gibt noch irgendetwas her, noch das Sinnieren über das Inflationsziel, wenn wir die nächsten Schritte der EZB vorhersagen wollen.
Der natürliche oder neutrale Zins soll dem Nominalwachstum entsprechen, also dem Wachstum plus Inflation. 2,5 Prozent erwartetes Wachstum plus 1,9 Prozent Inflation macht 4,4 Prozent Leitzinsen, ganz gleich, ob die Inflation weiterhin unter zwei Prozent verharrt.
Mit dieser Politik wird Euroland das amerikanische Wunder am Arbeitsmarkt kaum gelingen. Ob dadurch die Stabilität des Finanzsystems gestärkt wird, ist zweifelhaft. In den globalisierten Kapitalmärkten verschulden wir uns doch eh dort, wo es am billigsten ist. Und das ist nun mal zur Zeit der Yen und der Schweizer Franken, oder?