In der jüngsten Ausgabe der ZEIT (30/2007, S. 25) klagen Sebastian Dullien und Daniela Schwarzer von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik über die verantwortungslose Steuerpolitik des neuen französischen Präsidenten: Er senkt die Steuern, obwohl das Defizit laut EU-Prognose in diesem Jahr 2,4 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts betragen dürfte – und damit nahe der kritischen 3 Prozent-Marke liegt. Auch in Italien, „dem Schuldenkönig Europas“, fehlt, wer hätte es gedacht, wieder einmal jede Disziplin. Der Geldsegen, der durch die gute Konjunktur über’s Land gekommen ist, soll nicht etwa zum Abbau der Schulden, sondern für mehr Sozialausgaben verwendet werden, so dass das Defizit 2007 nicht auf 2,3 Prozent des BIP, sondern nur auf 2,5 Prozent zurückgeht. Und wie sieht es mit Berlin aus? Dort übertrumpfen sich „Abgeordnete und Minister … mit Vorschlägen, um die eigene Klientel mit Geschenken zu beglücken.“
Wir sollten die Kirche im Dorf lassen und uns einfach mal die Fakten ansehen. Außerdem lohnt es, die verschiedenen impliziten Annahmen, die die Autoren machen, ans Licht zu holen. Dann zeigt sich nämlich, dass kein Anlass zur Panik besteht. Was wir in der europäischen Finanzpolitik zur Zeit sehen, ist nicht beunruhigend sondern eher willkommen.
Zunächst: Die europäische Wirtschaft expandiert jetzt seit zwei Jahren etwas rascher als das sogenannte Produktionspotential, das laut EZB mittelfristig jährlich mit etwas mehr als 2 1/4 Prozent wächst. Dass es jetzt besser läuft, ist ein guter Anfang, hat aber nicht viel zu sagen, weil die Zuwachsraten des realen BIP in den fünf Jahren zuvor deutlich geringer waren als 2 1/4 Prozent. Es gibt noch erheblichen Nachholbedarf. Wenn das BIP seit dem letzten zyklischen Höhepunkt im ersten Quartal 2000 mit der Potentialrate zugenommen hätte, wäre es im ersten Quartal 2007 um 2,8 Prozent höher gewesen als es tatsächlich war. Mit anderen Worten, die Outputlücke ist erst dabei, sich zu schließen. Bei dem jetzigen Tempo wären wir, was die Auslastung angeht, erst im Jahre 2011 wieder da, wo wir zuletzt 2000 waren.
Wir sind also noch weit entfernt von einem Zustand, der sich mit dem Wort „Hochkonjunktur“ beschreiben ließe. Das entspricht auch der Stimmung in der Bevölkerung. Es schadet daher nicht, wenn die Finanzpolitik, die so lange auf Konsolidierung, also Sparen aus war, die Zügel etwas lockert. Gebremst werden sollte, wenn die Produktion kurz davor ist, an die Decke zu stoßen und die Inflation aus dem Ruder zu laufen droht.
Der Aufschwung ist keineswegs so robust, dass man nicht um seine Fortdauer fürchten müsste. Was, wenn der Euro demnächst auf 1,50 Dollar klettert, oder der Ölpreis auf 100 Dollar? Das sind ja keine abwegigen Vorstellungen.
Insbesondere will der private Verbrauch einfach nicht anspringen. Das muss er aber, wenn wir von der Abhängigkeit vom Außenhandel etwas wegkommen wollen. Im vergangenen Jahr machten die Konsumausgaben der Haushalte im Euroland 56,9 Prozent des BIP aus, sind also die bei weitem wichtigste Komponente auf der Nachfrageseite, real nahmen sie gegenüber dem Vorjahr jedoch nur um 1,7 Prozent zu und damit deutlich langsamer als das BIP (3,1 Prozent). In den beiden Vorjahren war es ähnlich.
Es ist im Übrigen nichts Magisches an den Maastricht-Kriterien. Sie haben eine Funktion als Disziplinierungsinstrumente, helfen also der Stabilität des Euros in der Außensicht, ökonomisch sind die fiskalischen Ziele aber ziemlicher Unfug. Insbesondere die Forderung, dass der Staat über den Zyklus hinweg keine Defizite haben sollte, ist wissenschaftlich überhaupt nicht zu begründen. In der Rezession darf das Defizit 3 Prozent erreichen, im Aufschwung soll es dann aber einen Überschuss in ähnlicher Größenordnung geben, so dass letztlich keine neuen Schulden gemacht werden und die Staatsschulden, in Relation zum BIP, auf diese Weise gegen Null konvergieren.
Was ist das denn? Investiert der Staat nicht ständig in Krankenhäuser, Straßen, Schulen, Förderbanken, Netze aller Art, und erhöht das nicht die Produktivität der Gesamtwirtschaft und auf diese Weise auch die künftigen Steuereinnahmen? Ich fand die alte, „goldene“, Regel der Finanzpolitik ganz vernünftig, dass der Staat in Höhe seiner Investitionsausgaben Schulden machen darf, jedenfalls im Mittel des konjunkturellen Auf und Ab. Aus Misstrauen gegenüber den früheren Hochinflationsländern im Süden des Kontinents wurde diese Regel abgeschafft. Der im Vergleich zu früher desolate Zustand unserer Infrastruktur zeigt, was uns das gebracht hat.
Und wie sieht es mit den Defiziten nun tatsächlich aus? Im Tabellenanhang des „Economist“ vom vergangenen Freitag finden sich die folgenden Zahlen der seriösen und vor allem, anders als die staatlichen Prognostiker, nicht voreingenommenen oder tendenziösen Economist Intelligence Unit: Für Euroland insgesamt wird, gemessen am BIP, ein Budgetdefizit von 0,9 Prozent erwartet, für Deutschland ein Überschuss (!) von 0,3 Prozent, für Frankreich und Italien Defizite von 2,8 Prozent und 2,6 Prozent. In Spanien, wo es richtig brummt, könnte ein Überschuss von 1,1 Prozent herauskommen. Wo ist das Problem, könnte man fragen. Lass doch die Konjunktur noch eine Weile weiter laufen und wir kriegen überall Überschüsse, so unnötig das auch sein mag. Sogar Steuersenkungen sind hilfreich dabei – sie finanzieren sich erfahrungsgemäß zum großen Teil von allein, wenn sie helfen, die Konjunktur in Schwung zu versetzen.
Die USA, das Steuersenkungsland par excellence, dürfte 2007, wenn es so weitergeht, ein Staatsdefizit von 1,2 Prozent erreichen, trotz Irakkrieg und einem gewaltigen Loch in der Leistungsbilanz.
Ich habe ein bisschen den Verdacht, dass die beiden Autoren, beide eigentlich ernst zu nehmende Ökonomen, vor allem deshalb auf Panik machen, um ihre Idee von einer konjunkturglättenden Europasteuer an den Mann zu bringen. Es gäbe doch auch andere Begründungen als die Verweise auf die unsäglichen Maastrichtkriterien, oder?