Übertreibungen an den Märkten, Assetpreisblasen und Finanzkrisen waren das Element von Hyman Minsky. Der 1996 verstorbene Ökonom ist durch seine Krisentheorie berühmt geworden, stand aber immer am Rand des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams. Jetzt wird er wieder entdeckt. Nouriel Roubini schreibt etwa, dass die jetzige Krise an den Finanzmärkten ein richtiger Minsky-Moment sei – sie verlaufe genau nach Minskys Theorie der finanziellen Instabilität, die dieser schon in den 60er und 70er Jahren entwickelt hatte. Minskys Hauptthese ist, dass das Finanzsystem im Laufe eines Aufschwungs automatisch instabil wird. Kurz: Im Kapitalismus ist die Krise immer mit dabei.
Damit wendet sich Minsky gegen den Mainstream, nach dem die Ökonomie immer ins Gleichgewicht strebt. Abweichungen und Dynamiken kämen im Mainstream nur durch äußere Faktoren, wie Kriege, Katastrophen oder andere Störungen, die mit der Wirtschaft als solcher nichts zu tun haben. Wenn es dann doch Krisen gebe, seien die durch falsche institutionelle Anreize entstanden. Minsky setzt dem entgegen, dass Finanzkrisen zum kapitalistischen Wirtschaften gehören – also aus dem System selbst entstehen. Damit ist Minsky ein Ökonom des Ungleichgewichts.
Der zweite Pfeiler seiner Theorie ist die Rolle der fundamentalen Unsicherheit im Marktgeschehen. Während der Homo Oeconomicus des Mainstreams die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse zu jeder Zeit auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen ausrechnet, stehen bei Minsky die Rolle von Unsicherheit und Konventionen im Mittelpunkt. Weil Menschen nie genau wissen, welches ökonomische Modell wahr ist und welche Folgen ihre Handlungen haben, neigen sie dazu, sich den anderen anzupassen. Sie orientieren sich an Konventionen und treffen auf deren Grundlage Entscheidungen, ohne alle möglichen Optionen zu durchdenken, was letztlich auch unmöglich ist. Und so kann sich die ökonomische Realität ganz anders entwickeln als gedacht und den Leuten schnell um die Ohren fliegen: Die nächste Krise kommt bestimmt.
Wie kommt Minsky darauf? Er stellt die Finanzierung von Unternehmen, Haushalten und Banken in seiner Untersuchung in den Mittelpunkt. Dabei unterscheidet er zwischen drei verschiedenen Arten von Finanzierung. Neben der sicheren Finanzierungsform von Unternehmen, Haushalten und Banken, bei der die erwarteten Einnahmen ausreichen, um sowohl den Kredit als auch die Zinsen zurückzuzahlen, unterscheidet Minsky noch zwischen der spekulativen- und der Ponzi-Finanzierung. Bei der spekulativen Finanzierung reichen die Einnahmen nur dafür aus, die Zinsen zu bedienen, aber nicht den Kredit selbst zurück zu zahlen. Der muss deswegen immer wieder verlängert werden und die Spekulanten sind damit auf liquide Finanzmärkte angewiesen. So finanzieren sich vor allem Banken und andere Finanzinstitutionen. Ponzi-Finanzierer können dagegen weder ihre Schulden bedienen noch zurückzahlen. Sie spekulieren darauf, dass die Preise ihrer Assets steigen, um später durch deren Erlös die Schulden zu tilgen. Klar, dass ein Finanzsystem umso instabiler wird, je weniger Akteure sich sicher finanzieren und je mehr zu spekulativen – oder Ponzi-Finanzierern werden.
Genau das geschieht aber im Aufschwung. Mit steigender Wirtschaftskraft steigen auch die Gewinnerwartungen und damit die Vermögenspreise. Mit der Aussicht auf höherer Gewinne verschulden sich die Akteure stärker, um sich neues Kapital, ein Häuschen oder Aktien zu kaufen. Wenn sich die Gewinne dann auch verwirklichen, steigt die Erwartung auf noch höhere zukünftige Gewinne: Wenn jetzt schon so viel drin ist, muss noch mehr gehen, sagen sich viele. Schnell finden sich Theorien, warum das Wachstum nicht mehr aufhören kann und die Wirtschaft sich auf einem ganz neuen Pfad bewegt, auf dem Rezessionen der Vergangenheit angehören.
Die Leute werden immer unvorsichtiger – sie unterschätzen die Risiken und überschätzen die Gewinn- und Renditeerwartungen; gleichzeitig steigt die Verschuldung und immer mehr Akteure wechseln von der sicheren zur spekulativen und von der spekulativen zur Ponzi-Finanzierung. Dann braucht es nur eine kleine Erschütterung, und das System stürzt in sich zusammen. Bleiben die Gewinne plötzlich hinter den immer höheren Erwartungen zurück, fallen die Vermögenspreise und die Ponzi-Finanzierer gehen reihenweise Pleite. Dann bekommen auch die Banken Angst und verweigern Kredite. Die Liquidität versiegt und bringt die Spekulanten in Bedrängnis. Am Ende steht ein Verfall der Vermögenspreise, Massenpleiten, ein Rückgang der Investitionen und die Deflation. Das instabile Finanzierungssystem reißt die reale Wirtschaft mit in den Abgrund – von wegen Trennung zwischen monetärer und realer Sphäre!
Nouriel Roubini hat das Modell Minskys auf die US-Immobilienkrise und ihre Weitungen in das internationale Finanzsystem übertragen. Unter die Ponzispieler zählt er vor allem die US-Haushalte im Subprimemarkt – denn die endgültige Schuldenlast liegt bei vielen Haushalten klar über dem verfügbaren Einkommen. Das zieht sich aber nicht nur durch den Immobilienmarkt, sondern betrifft auch Kreditkartenschulden und andere Konsumkredite. Viele Haushalte haben sich auch spekulativ finanziert in der Hoffnung darauf, ihre Hypotheken refinanzieren zu können. Dass Banken spekulativ vorgehen, ist kein Wunder. Wie viele Ponzispieler darunter waren, weiß man bis jetzt nicht – was ja auch ein Hauptgrund für die versiegende Liquidität ist. Die IKB und die SachsenLB waren auf jeden Fall dabei. Mal schauen, welche Banken noch folgen werden.
Hedge Funds und Private Equity haben in Roubinis Augen das Finanzsystem besonders destabilisiert. Diese beiden Investorengruppen seien treibende Kräfte in der Minskykrise gewesen: Durch schuldenfinanzierte Übernahmen und dadurch, dass man Unternehmen von der Börse genommen hat, und durch Aktienrückkäufe haben sie die Eigenkapitalbasis der betroffenen Unternehmen geschwächt und stattdessen höhere Schulden aufgenommen – was das Finanzsystem noch anfälliger gemacht hat. In der jetzigen Krise stimmt alleine optimistisch, dass viele Unternehmen durch ihre hohen Profite weiterhin auf sicheren Beinen stehen. Trotz der Krise am Kreditmarkt können sie wegen ihres hohen Cash Flows weiter investieren.
Minsky hat mit seiner Theorie die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus erklärt, aber es ging ihm vor allem auch darum, dass „es“ nicht noch einmal passieren sollte, nämlich eine Deflation wie nach der Weltwirtschaftskrise 1929. Wichtig waren ihm deswegen starke öffentliche Institutionen, die helfen die Wirtschaft zu stabilisieren. Die Zentralbank sollte das immer komplexer werdende Finanzsystem überwachen und die Entwicklung neuer Finanzstrukturen steuern. Im Fall der Krise ist ihre Rolle die des Lender of Last Resort, d.h. des Kreditgebers der letzten Instanz, der für ausreichend Liquidität sorgt. Das Budget des Staates sollte sich mindestens in der Größenordung der Investitionen bewegen, um in der Krise durch entsprechende Defizite den Rückgang der Investitionsausgaben ausgleichen zu können. Hierdurch werden nicht nur die Profite der Unternehmen stabilisiert, sondern das Finanzsystem wird zusätzlich mit sicheren öffentlichen Wertpapieren versorgt
Ben Bernanke, der Chef der Fed, scheint letzten Freitag seinen Minsky-Moment gehabt zu haben: Minsky betonte die Wichtigkeit des Diskontfensters im Gegensatz zur Offenmarktpolitik. Mit niedrigeren Diskontsätzen könne man verantwortungsvollen Banken Liquidität zu besseren Kondition geben.