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Greenspans Memoiren: zugleich spannend und ärgerlich

 

In Greenspans kürzlich erschienen Memoiren, einem 530 Seiten-Schmöker, durch den ich mich gerade arbeite, gibt es eine Fülle von anregenden Berichten aus dem Zentrum der Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit, wie man sie so schnell nicht wieder finden dürfte. Nach diesem chronologisch angeordneten Teil, der die Hälfte des Buches ausmacht, kommen mehrere gut geschriebene Kapitel grundsätzlicher Art, die ich wegen ihrer gelegentlich ungewohnten Perspektive sehr lehrreich finde, etwa das über das Leistungsbilanzdefizit und die Schuldensituation der USA (S. 346 – 362), oder das berühmte „Conundrum“, die Frage, warum die Anleiherenditen im letzten Zinserhöhungszyklus gesunken statt gestiegen sind (S. 377 – 391). Auf manches kann man allerdings auch verzichten, vor allem auf die ziemlich penetrante Erfolgsgeschichte des Kapitalismus (S. 267 – 345).

Die Lektüre ist überwiegend spannend und der Ausdruck „durch arbeiten“ von daher eigentlich falsch. Sie ist auch keineswegs so trocken wie man das bei jemandem erwarten würde, dessen Spitzname einmal, wie er selbst berichtet, „undertaker“ war, also Bestattungsunternehmer, weil er schon als ganz junger Mann immer in dunklen Anzügen auftrat, und der den Ruf hatte, immer dann nervös zu werden, wenn er sich zu klar ausdrückte. Er hatte seiner jetzigen Frau drei Heiratsanträge machen müssen – er sagt, es seien fünf gewesen – bis sie verstand, auf was er hinauswollte. Da war er 70 oder 71 Jahre alt.

Das Buch hat Längen, und zwar da, wo man den Eindruck hat, dass das eine oder andere nur deswegen beschrieben wurde, damit auch wirklich alles, was gesagt werden musste, später einmal auch tatsächlich nachzulesen sein würde. Ansonsten macht das Lesen aber Spaß, vor allem da, wo er die Entscheidungsprozesse in der Fed beschreibt. Denn die Datenlage ist fast immer ziemlich schlecht und die Szenarien sind selten ähnlich, aber trotzdem muss man handeln. Das zu beobachten und nachzuvollziehen macht Spaß.

Auf den Geist geht mir allerdings Greenspans Triumphalismus, sein ständig wiederholtes Glaubensbekenntnis, dass kein Wirtschaftssystem bessere Resultate zustande bringt als eine möglichst freie, mit klaren Eigentumsrechten und einem belastbaren Rechtssystem kombinierte Marktwirtschaft. Er mag ja recht haben, aber er braucht das einem bitte nicht immer wieder neu aufs Brot zu schmieren. Es gibt zudem laut Greenspan keine besseren Rollenmodelle für Länder, die sich entwickeln wollen, als die diversen angelsächsischen, vor allem das Modell der USA selbst. Erfolgsstories wie die skandinavischen, schweizerischen oder holländischen werden schlicht ignoriert. Auch wer in einer Weltstadt wie New York lebt, ist nicht automatisch vor erstaunlichem Provinzialismus gefeit.

Ein Beispiel: Nachdem Greenspan darauf zu sprechen kommt, dass die immer ungleichmäßigere Einkommensverteilung auf Dauer auch für die USA ein Problem darstellen dürfte, schlägt er als wichtigste Gegenmaßnahme vor, die Ausbildung der amerikanischen Jugend in quantitativ anspruchsvollen Fächern wie Mathe und Physik dadurch zu verbessern, dass man den Lehrern deutlich bessere Gehälter zahlt; andernfalls können die Schulen nicht mit der Privatwirtschaft konkurrieren. Schlechte Lehrer in den für den wirtschaftlichen Fortschritt zentralen Fächern bedeuten, dass die jungen Leute nicht das lernen, auf was es ankommt und daher entsprechend wenig Perspektiven haben (das Pisa-Problem auf Amerikanisch). Der Einkommensabstand zwischen den wenigen gut Ausgebildeten und der Masse derer, die das Einmaleins nicht können, wird zwangsläufig größer. Es könnte die Stunde der Populisten schlagen, der Steuererhöherer und Protektionisten. Dass man auch eine gute mathematisch-naturwissenschaftliche Ausbildung zustande bringen kann, ohne starke marktwirtschaftliche Anreize, kommt Greenspan nicht. Wie wäre es mit kleinen Klassen, einem kleineren Lehrpensum, mehr Förderung statt Leistungsdruck, Schulen, die in ihren Lehr- und Finanzplänen weitgehend autonom sind, Unkündbarkeit der Lehrer, langen Ferien? Viele wollen ja gern Mathe unterrichten, wenn das Umfeld freundlicher wäre, ganz unabhängig von der Bezahlung.

Da wo es ins Grundsätzliche und Philosophische geht, zeigt sich, dass Greenspan kaum in der Lage ist über seinen New Yorker Horizont hinauszusehen, und es auch nicht will, weil zuhause alles ohnehin so prächtig ist. Er kommt aus kleinen Verhältnissen – und seht mal, was aus ihm geworden ist! Alle bewundern Amerika, was kann ich von den anderen denn dann lernen?

Das Projekt „Euro“ findet auf den ganzen 530 Seiten nicht statt. Und überhaupt Europa! Sein Freund ist Gordon Brown. Die Briten sind echt Klasse, vor allem dass Labour die Lehren von Margaret Thatcher übernommen hat, toll. Aber sonst: „Kohl hielt eine erwartungsgemäß langweilige Rede“, „Die längerfristigen strukturellen Probleme [Deutschlands] – hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Produktivität – werden nicht ernsthaft angegangen. Da das Kündigen so teuer ist, werden nicht genügend Leute eingestellt“; „Die meisten Franzosen lehnen marktwirtschaftlichen Wettbewerb ab“, „Es ist schwer, nicht äußerst pessimistisch hinsichtlich der wirtschaftlichen Aussichten Frankreichs zu sein“; „Rom war mehr als zweitausend Jahre lang das Zentrum der Zivilisation“, „aber die lange Geschichte und die Kultur des zivilisierten Umgangs reichen nicht aus als Basis für die Wirtschaft Eurolands oder, allgemeiner, für die Europäische Union“. Ein vollkommen hoffnungsloser Fall ist Russland (Korruption, Dutch Disease, kein anständiges Rechtssystem, zu viele Rohstoffe). Glücklicherweise kommt Japan bei Greenspans Stammtischweisheiten nicht viel besser weg: „[Japan] legt Wert auf Konformität: Es ist eine sehr zivilisierte Gesellschaft, die eine starke Abneigung gegen kreative Zerstörung hat.“ Man sieht, Schumpeter ist einer der Helden Greenspans; die anderen sind Adam Smith, John Locke und Ayn Rand (noch nie gehört?). Was mich natürlich auch sehr ärgert, dass die Aufklärung („enlightenment“), die uns das ganze wunderbare kapitalistische System beschert hat, nur in Schottland, England und Frankreich stattfand.

Ich will aber nicht zu negativ (oder zu kleinlich) sein. Greenspan sollte nicht anhand dieses bei allen Schwächen sehr lesenswerten Buches, sondern vor allem danach beurteilt werden, was er geleistet hat. Die Ergebnisse der amerikanischen Geldpolitik können sich – bislang jedenfalls – wirklich sehen lassen. Klar, es war nicht allein sein Verdienst. Ein sehr positives weltwirtschaftliches Umfeld kam ihm zustatten, hohe Sparquoten, rascher technischer Fortschritt, niedrige Inflation, aber er hätte an seiner exponierten Stelle auch Fehler machen können, die zu Deflation und Rezession hätten führen können. Er hat sie nicht gemacht.

Und ich muss zugeben, dass mir sein auf gründlicher Datenanalyse basierender Politikansatz sehr gefällt. Greenspan ist stets pragmatisch, also das Gegenteil von ideologisch (wenn er uns nicht gerade, wie im zweiten Teil des Buches, zum Kapitalismus á l’Americaine bekehren will), und nutzt die Theorien, die er für am besten geeignet hält, die jeweiligen Entwicklungen zu erklären. Da er beispielsweise nicht genau weiß, wann eine Bubble eine Bubble ist, wartet er erst mal ab und kümmert sich später um die Schadensbegrenzung – wenn es denn zu einem Platzen der Blase und damit zu Schäden kommt. Bei manchen angeblichen Blasen handelt es sich nur um strukturelle Veränderungen, um eine Anpassung der relativen Preise. Einen solchen Strukturwandel zu bekämpfen wäre ein gravierender Fehler.

Wachstum und Vollbeschäftigung sind für Greenspan mindestens genauso wichtig für stabile wirtschaftliche Verhältnisse wie eine niedrige Inflationsrate. Da kann ich auch nicht meckern. Die EZB vertritt dagegen die Auffassung, dass Preisstabilität auch auf kurze Sicht immer Priorität haben muss, dass das die beste Voraussetzung für hohes und stetiges Wirtschaftswachstum ist und dass Wachstum kein gleichberechtigtes Ziel für sie sein kann. Sie muss das natürlich so sagen, weil ihr das in ihrer bundesbankgeprägten Verfassung so vorgegeben ist. Trotzdem: Wenn es ein Match gäbe, bei dem es darum ginge, wer die besten gesamtwirtschaftlichen Ergebnisse erzielt, die Fed oder die EZB, hieße es zur Zeit 1 : 0 für die Fed. Mir ist klar, dass diese Match länger als 90 Minuten dauert.