Die Zahlen für die Auftragseingänge und die Industrieproduktion, die gestern und heute veröffentlicht wurden, bestärken unsere Sicht, dass das reale Sozialprodukt im gerade abgelaufenen dritten Quartal mit einer annualisierten Rate von rund 5 Prozent zugenommen haben dürfte.
Das Volumen der Aufträge an die deutsche Industrie ist saisonbereinigt bis zum August sechsmal in Folge gestiegen, wenn auch von einem äußerst niedrigen Niveau aus. Für die Zeit seit Februar errechnet sich eine auf’s Jahr hochgerechnete Rate von +37,2 Prozent. Das sieht eindrucksvoll aus, trotzdem liegt das Niveau der realen Aufträge immer noch um 27,2 Prozent unter dem zyklischen Höhepunkt von November 2007. Trotz der starken Aufwertung des Euro sind die Auslandsorders in den vergangenen sechs Monaten sogar etwas kräftiger gestiegen (+19,1 Prozent) als die Inlandsorders (+15 Prozent). Der Welthandel expandiert offenbar wieder sehr rasch, getrieben von den asiatischen Schwellenländern und den neuerdings wieder sehr flüssigen Ölproduzenten, obwohl auch hier gilt, dass es noch ein weiter Weg ist bis zu den alten Höchstständen. Die Frachtraten für Hochseeschiffe hatten sich seit dem Tief im Dezember etwas gefangen, sind aber in den letzten Monaten tendenziell wieder abgebröckelt und befinden sich zur Zeit immer noch um 78,4 Prozent unter dem Rekordwert von Mai 2008 (gemessen am Baltic Dry Index).
Die Industrieproduktion ist erst später in die Gänge gekommen. Hier markiert der April 2009 den zyklischen Tiefpunkt – seitdem hat sie mit einer Verlaufsrate von 20,2 Prozent zugelegt, befindet sich aber trotzdem noch um 18,4 Prozent unter ihrem Höchststand von Februar 2008. Da gibt es noch eine Menge aufzuholen. Die freien Kapazitäten sind nach wie vor gewaltig. Zusammen mit den Effekten des aufwertenden Euro bedeutet das, dass die Deflationsrisiken nicht geringer geworden sind.
Immerhin übertrifft das durchschnittlich Niveau der Produktion im Produzierenden Gewerbe im Juli und August den Mittelwert des zweiten Quartals um 2,0 Prozent, was einer Verlaufsrate von 8,1 Prozent entspricht. Wenn ich mir die Auftragseingänge und die positiven Zahlen vom Arbeitsmarkt ansehe, vermute ich, dass es im September erneut eine hohe Zuwachsrate gegeben haben dürfte, so dass bei der Produktion für das Quartal insgesamt gegenüber dem zweiten Quartal eine Zunahme von 2,7 Prozent herauskommen könnte, was sich wiederum in eine Verlaufsrate von 11,2 Prozent übersetzen lässt. So gesehen ist eine BIP-Prognose von +5 Prozent nicht so kühn, wie es auf den ersten Blick scheint. Es ist nicht ungewöhnlich, dass nach einem starken Einbruch für eine Weile ohne Weiteres sehr hohe positive Zuwachsraten erzielt werden.
Ob das so weitergehen kann, steht auf einem anderen Blatt. Bisher speist sich der Aufschwung aus drei Quellen: dem Aufstocken der Lagerbestände, die im ersten Halbjahr fast panikartig auf ein absolutes Minimum heruntergefahren worden waren, der extrem expansiven Wirtschaftspolitik sowie dem neuen Aufschwung im Ausland. Deutschland hatte mehr als fast alle anderen Länder unter der Weltrezession gelitten, profitiert jetzt aber auch überproportional von der konjunkturellen Wende. Ob sich global schon ein sich selbst tragender Aufschwung entwickelt hat, ist nicht sicher, da die Wirkungen der Liquiditätsschwemme, der niedrigen Zinsen und der Konjunkturprogramme irgendwann nachlassen. Zu hoffen ist, dass die private Nachfrage auch ohne diese Unterstützung genügend Kraft entwickelt. Die Kreditnachfrage ist in den Industrieländern allerdings nach wie vor rückläufig, was kein so gutes Omen ist.
Die guten Konjunkturzahlen aus Deutschland lassen vermuten, dass es mit der Wirtschaft von Euroland insgesamt ebenfalls bergauf geht, vorläufig jedenfalls. Wenn es ein paar Monate so weitergeht, wird es der EZB schon bald in den Fingern jucken. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie bald begänne, laut über Zinserhöhungen nachzudenken. Es muss sie ärgern, dass die Regierungen der 16 Mitgliedsländer bislang keine Ausstiegsstrategien vorgelegt haben, also keine Pläne, wie den ausufernden Haushaltsdefiziten beizukommen ist. Sarkozy hat sogar mehr oder weniger klar zum Ausdruck gebracht, dass Maastricht auf absehbare Zeit irrelevant für ihn sei. Eine solche Missachtung des konstituierenden Vertrags der Währungsunion dürfte vor allem Herrn Trichet reizen und zu einem „gerade jetzt“ herausfordern, nach dem bekannten Bundesbankmodell.
Eine andere Argumentationslinie könnte folgendermaßen verlaufen: Die Zentralbanken haben gelernt, dass die Zinsen erhöht werden müssen, wenn die Gefahr neuer Vemögensblasen besteht, und zwar auch dann, wenn es keine Inflationsrisiken gibt. Da solche Blasen immer platzen, gefolgt von jahrelanger Unterbeschäftigung, sei es besser, heute eine Rezession hinzunehmen, die vermutlich kurz und flach ausfallen dürfte, als in eine Depression à la dreißiger Jahre und Japan zu schlittern. „Leaning against the wind“ nennt man so etwas.
Ich halte ein Anziehen der monetären Zügel von der Sachlage her nicht für richtig. Ich würde warten, bis die Konjunktur genügend Eigendynamik entwickelt hat, und würde das festmachen an der Entwicklung der Kredite an den privaten Sektor, einer Trendwende bei den Löhnen und der Beschäftigung. Wenn die Zinsen heute erhöht würden und die Amerikaner nicht mitmachten, wäre der Euro in kürzester Zeit bei 1,60 Dollar oder mehr. Welche Aufwertung hält die Währungsunion realistischerweise aus, auch politisch? Eile ist bei den Zinsen bislang nicht geboten, auch wenn die Aktienmärkte schon wieder sehr fest sind. Die Immobilienmärkte befinden sich im Übrigen noch im Rückwärtsgang. Die EZB kann den Finanzpolitikern zwar mit Konsequenzen drohen, aber ernst machen sollte sie noch nicht.