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Zurück zu den alten Ungleichgewichten

 

Im neuen Monatsbericht der EZB gibt es die folgende aufschlussreiche Graphik (eigene Darstellung):

Grafik: Weltweites reales Wirtschaftswachstum

Sie zeigt, dass es, wenn der Internationale Währungsfonds und die EZB recht haben, bereits in diesem Jahr – und erst recht in den folgenden Jahren bis 2014 einschließlich -, wieder Wachstumsraten des globalen realen BIP geben wird, die denen der sieben Vor-Krisenjahre kaum nachstehen. Das heißt, das BIP wird im Durchschnitt mit etwas mehr als 4 Prozent jährlich expandieren. Das ist, wie stets beim IWF, auf der Basis von Kaufkraftparitäten, also mit synthetischen Wechselkursen gerechnet, wodurch die rasch wachsenden Schwellenländer und Entwicklungsländer ein größeres Gewicht bekommen als bei echten, marktbestimmten Wechselkursen (bei denen für das globale Wachstum knapp ein Prozentpunkt weniger herauskommen würde).

Die Krise war tief, es wurden die richtigen Gegenmaßnahmen ergriffen, und jetzt geht es schon wieder so weiter wie bisher. Das gilt allerdings nur für die Wachstumsraten selbst, nicht für ihre Struktur: Seit 2007 ist der Beitrag der entwickelten Länder zum globalen Wachstum nämlich auf weniger als ein Drittel gefallen und wird nach der Prognose des Schaubilds sogar auf ein Viertel fallen. Das bedeutet nicht zuletzt, dass den amerikanischen Verbrauchern, die lange Zeit als Wachstumslokomotive der Welt galten, keine Schlüsselrolle mehr zukommt. Die Musik spielt vielmehr in den vier BRIC-Ländern, aber auch in Mexiko, Mittel- und Osteuropa, in den OPEC-Ländern, in Korea, Indonesien und im übrigen Südostasien. Go east, young man (or south)!

Nun zu den Ungleichgewichten: Sie haben sich allesamt im Verlauf der tiefen Rezession vermindert: Die einstmals großen Leistungsbilanzdefizite, vor allem der USA und Großbritanniens, waren durch die starke Abwertung von Dollar und Pfund, den Einbruch der Rohstoffpreise und die relativ schwache Binnenkonjunktur geschrumpft. Umgekehrt die Überschussländer: Bei den Rohstoffexporteuren, etwa in Russland oder den OPEC-Staaten, brachen die Ausfuhrerlöse ein, während sich in Deutschland und Japan der schwache Welthandel bemerkbar machte, so dass es trotz der rückläufigen Inlandsnachfrage, also schwachen Importen, zu rückläufigen Handelsbilanzsalden kam. Auch die Bewertungen und Marktpreise von Immobilien und Aktien waren im Verlauf der Krise wieder auf vernünftige Niveaus zurückgegangen und stellten keine Gefahrenherde mehr dar.

Die EZB weist darauf hin, dass dieser Abbau von Ungleichgewichten vermutlich nicht nachhaltig war. Vor allem die asiatischen Schwellenländer, die einigermaßen glimpflich durch die Krise gekommen sind, könnten im Verlauf der konjunkturellen Erholung der Weltwirtschaft zu ihrem alten, exportgetriebenen Wachstumsmodell zurückkehren und neue Ausfuhrüberschüsse und Währungsreserven anhäufen. Andererseits würde es auch nicht überraschen, wenn die Leistungsbilanzdefizite in den angelsächsischen Ländern wieder zunehmen würden, vor allem, wenn es nicht gelingt, die staatlichen Defizite zurückzufahren. Wonach es nicht aussieht.

Durch die Überschwemmung der Märkte mit Liquidität, also der Aufblähung der Zentralbankbilanzen, kann es ebenfalls leicht wieder zu einer Überbewertung von (Unternehmens-) Anleihen, Rohstoffen, Immobilien und Aktien kommen. Da die Prozesse des Schuldenabbaus in vielen Ländern, in denen es vorher Blasen gegeben hatte, noch nicht abgeschlossen sind und die Investitionstätigkeit wegen der meist noch sehr niedrigen Kapazitätsauslastung nicht richtig anspringt, haben wir es wieder mit einer Situation zu tun, in der liquide Mittel auf der Suche nach der nächsten großen Anlagestory sind. Neue Blasen könnten vorprogrammiert sein.

Ich überspitze nur wenig, denke ich: Um die Rezession möglichst rasch zu überwinden und so das Risiko von Depression und Deflation auszuschalten, wurden die Zinsen in den wichtigsten OECD-Ländern seit Herbst 2008 auf nahe Null gesenkt, die Geldpressen wurden angeworfen und die Staatsdefizite in bislang unbekannte Höhen getrieben. Die Medizin hat gewirkt. Aber es ist offenbar sehr schwer, sie wieder abzusetzen. Noch kann niemand sicher sein, dass die Konjunktur in den Industrieländern von hier aus allein laufen kann. Die Probleme von Irland, Island, Griechenland, der Ukraine, Ungarns, bald vielleicht auch Portugals und Spaniens oder sogar Großbritanniens und der USA sind so groß, dass eine pro-zyklische, also restriktivere Politik im Augenblick zumindest als viel zu gefährlich gilt. Lieber neue Ungleichgewichte hinnehmen als einen neuen konjunkturellen Rückschlag. Die Sache könnte sich leicht aufschaukeln.

Und wo bleibt das Positive? Etwas Erfreuliches gibt es: China ist in einer offenbar äußerst robusten Verfassung und auf dem besten Weg, trotz eines gegenüber dem Dollar unveränderten Wechselkurses von seiner Exportabhängigkeit loszukommen. Weil die Inlandskonjunktur boomt, steigen einerseits die Einfuhren deutlich während andererseits das Exportieren weniger attraktiv ist. Im März gab es erstmals seit Menschengedenken ein Defizit in der Handelsbilanz; die Warenexporte lagen im ersten Quartal um 28,7 Prozent über ihrem Vorjahreswert, die Importe dagegen um 66,9 Prozent. Im Verlauf dieses Jahres könnte Chinas Handelsbilanz in die roten Zahlen rutschen, womit ein wichtiges globales Ungleichgewicht verschwinden würde.

Übrigens ist China zur Zeit Deutschlands drittwichtigster Handelspartner, nach Frankreich und Holland. Wenn es so weitergeht, wird es in spätestens zwei Jahren auf dem ersten Platz stehen.

An Dynamik fehlt es in China nicht. Für das erste Quartal wurde gerade für das reale Sozialprodukt im Vorjahresvergleich ein Zuwachs von 11,9 Prozent gemeldet. Es könnte in dieser Größenordnung weiter gehen. Die Spar- und Investitionsquoten sind außerordentlich hoch, höher als sonst wo auf der Welt. Der Kapitalstock dürfte also stark wachsen, so dass die exorbitant kräftige Expansion der Nachfrage einigermaßen inflationsfrei bewältigt werden kann. Leider fehlt es an wirklich verlässlichen Statistiken, so dass ich mir nicht vollkommen sicher bin, dass ich mit meiner optimistischen Analyse der chinesischen Entwicklungen tatsächlich richtig liege. Manche meinen ja, Chinas Banken stünden kurz vor dem Blow-up. Ich gebe zu, dass die Geldmengenexpansion die Zuwachsrate des nominalen Sozialprodukts um mehr als das Doppelte übertrifft und dass das gefährlich werden könnte. Insgesamt ist China aber kein hochverschuldetes Land.

Was all das für die Anleger bedeutet? Geht es nun in Richtung Inflation oder Deflation? Wenn es jetzt tatsächlich neue Assetblasen geben sollte, die Liquidität also in existierende Aktiva fließt, wird es keine Hochkonjunktur und keine übermäßig zunehmende Auslastung der Kapazitäten geben. Es käme zu keiner Inflation der Preise für Güter und Dienstleistungen, eher zu einer neuen Runde an Deflation, wenn dann eines Tages die neuen Blasen platzen, was sie ja definitionsgemäß müssen. Dann hätten wir 2009 nur einen Vorgeschmack erlebt. Heißt? Gold verkaufen, Bundesanleihen kaufen, Schulden zurückzahlen, Dividendenpapiere kaufen, und warm anziehen.