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Mainz 05 schlägt Wolfsburg 4:3

 

In einem der sensationellsten Spiele der letzten Zeit haben die 05er am Samstag aus einem 0:3-Rückstand im Auswärtsspiel beim VfL Wolfsburg einen 4:3-Sieg gemacht – und wovon reden die Medien? Von der schwachen Deckung und dem neuen Traumsturm der Wolfsburger. Dass Mainz (wo ich wohne) ein klasse Team hat und einen hervorragenden, strategisch versierten Trainer namens Thomas Tuchel, wird fast gar nicht kommentiert. Mainz ist ein Underdog und wird es bleiben, ein Karnevalsverein eben, obwohl sie in der letzten Saison immerhin auf dem neunten Platz gelandet waren.

Als ich heute in der Financial Times den Beitrag von Wolfgang Münchau mit dem erstaunlichen Titel „Germany’s rebound is no cause for cheer“ las, erinnerte mich das an die Kommentare zum Spiel der Mainzer – irgendwie hat Deutschland bei den sogenannten internationalen Medien keine echte Chance. Was nicht sein kann, das nicht sein darf – Deutschland ist eine Rentnerrepublik und auf gar keinen Fall ein dynamisches Land, so wie Mainz einfach nicht guten Fußball spielen kann. Wenn sie gewinnen, war es Zufall, oder der Gegner hatte einen schlechten Tag.

Zwar leugnet auch Münchau nicht, dass das reale Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal ziemlich kräftig gestiegen ist, nämlich mit einer Verlaufsrate von 9 Prozent, aber das sei nur so etwas wie ein „classic dead-cat bounce“. Was will uns der Autor damit sagen? Dass unsere Wirtschaft de facto tot sei? Auch wenn man eine tote Katze auf das Pflaster knallt, prallt sie noch ein paar Zentimeter zurück. Aha. Das war’s dann aber. Tot ist tot. Mag sein, dass man bei manchen Medien solche Vorurteile bedienen muss.

Der deutschen Wirtschaft gehe es ohnehin nur deshalb so gut, weil die ganze Zeit unfairerweise eine beggar-thy-neighbour-Strategie betrieben würde, also eine reale Abwertung des „deutschen“ Euro durch stagnierende Löhne. Bei der Produktivität, dem eigentlichen Wachstumsmotor, tue sich dagegen nichts. Das mit den Löhnen stimmt, nur wem will man das vorwerfen? Bei Tarifautonomie kann das nicht der Staat sein – die „Schuldigen“ sind vielmehr vor allem die Gewerkschaften und Arbeitgeber. Die einen sind aber einfach nur darauf bedacht, dass die Arbeitnehmer ihre Jobs behalten, die anderen, dass sie Gewinne erzielen und auch in der Krise zahlungsfähig bleiben. So weit, so legitim. Bekanntlich sind Preise und Löhne normale Anpassungsparameter in einem kapitalistischen System, und es steht jedem frei, sie so zu ändern, dass man sich behaupten kann. Da die deutschen Löhne höher sind als fast überall im Rest von Euroland (siehe die Tabelle), tut es nicht besonders weh, wenn man sich da mal einige Jahre zurückhält. Wenn das System so ist wie es ist, darf es erlaubt sein, es zu seinem Vorteil zu nutzen.

Arbeitskosten international
– je Arbeitnehmerstunde im verarbeitenden Gewerbe im Jahr 2007, in Euro –
Belgien 35,8
Schweiz1) 34,2
Frankreich 32,0
Deutschland 31,7
Großbritannien 27,1
Italien2) 25,5
USA1) 21,7
Spanien 18,2
Griechenland2) 15,9
1) 2008 – 2) geschätzt
Quelle: Eurostat; eigene Schätzungen

 

Was die Produktivität angeht, habe ich mir mal bei der Bundesbank (S. 24 der Saisonbereinigten Wirtschaftszahlen) angesehen, wie sie sich entwickelt hat. Was zählt, ist das „Bruttoinlandsprodukt in Vorjahrespreisen je Erwerbstätigenstunde“. Da sehe ich, dass dieses seit Beginn der Währungsunion jährlich im Durchschnitt um 1,3 Prozent zugelegt hat, was nicht weniger und nicht mehr ist als in anderen reifen Volkswirtschaften wie den USA, Frankreich oder der Schweiz. Zu berücksichtigen ist außerdem, dass in diese Zeit zwei Rezessionen fielen, eine lange (Frühjahr 2001 bis Herbst 2003) und eine tiefe (Herbst 2008 bis Frühjahr 2009) – Rezessionen sind durch eine Stagnation oder sogar durch einen Rückgang der Produktivität gekennzeichnet. Der mittelfristige deutsche Trendwert liegt daher eher bei 1,4 Prozent. Die Schlussfolgerung ist eindeutig: die Wirtschaft wächst vor allem, weil der Output pro Stunde stetig zunimmt. Herr Münchau sollte gelegentlich einfach mal auf die Zahlen schauen. Da würde man beispielsweise auch sehen, dass die Beschäftigung fast schon wieder so hoch ist wie vor Ausbruch der Krise. Wo sonst gibt es das noch? Wäre nicht das allein schon ein Grund für ein bisschen cheerfulness?

Ihm ist übrigens aufgefallen, dass die Preise in den deutschen Supermärkten nahezu nur halb so hoch sind wie in Belgien, Italien und Spanien – das sei eine Erklärung dafür, dass sich die Wachstumsraten innerhalb Eurolands so stark unterschieden. Ich würde eher sagen, das ist ein Zeichen dafür, wie intensiv der Wettbewerb im deutschen Einzelhandel ist. Das hat nicht nur mit den Discountern zu tun. Aus Verbrauchersicht gibt es nichts Besseres als Löhne, die über, und Einzelhandelspreise, die unter denen der Nachbarländer liegen. Auf diese Weise bleibt mehr übrig für Sparen, Investieren und Wachstum als anderswo – und auch für den Konsum! Man muss sich schon ziemlich verrenken, wenn man auch da wieder ein Haar in der Suppe finden will.

Nur noch ein Schmankerl zum Schluss: Münchau kommt auf seinem krausen Pfad durch die angewandte Volkswirtschaft zu der Erkenntnis, dass die deutschen Arbeiter nur deshalb im Land blieben, weil der europäische Arbeitsmarkt nicht funktioniere. Da ist sicher was dran, aber sie suchen sich vor allem deshalb keine Jobs jenseits der Grenzen, weil das Lohnniveau hierzulande vergleichsweise hoch ist – siehe oben. Die Löhne sind zwar langsamer gestiegen als sonstwo, ihr Niveau ist aber weiterhin fast unübertroffen. Es gibt im Übrigen eine starke Abwanderung von Akademikern und Hotelpersonal in die Schweiz! Warum wohl? Weil in der Schweiz besser verdient wird. Auch Belgien ist sehr beliebt. Sollen Deutsche nach Griechenland auswandern, nur weil dort die Löhne lange Zeit stärker zugenommen haben als hier? Umgekehrt wird ein Schuh draus: Griechen und Spanier kommen hierher, weil unsere Löhne so attraktiv sind, gerade jetzt wieder. Wenn die Signale nur stark genug sind, gibt es auch am europäischen Arbeitsmarkt Wanderungen. Nicht zu vergessen: Kapitalströme sind stets ein Substitut für Migration beim Zusammenwachsen von Märkten. Und es ist nicht weiter bedenklich, wenn auch auf Dauer große regionale Einkommensunterschiede bestehen bleiben. Kaum jemand sieht ein Problem darin, dass das Lohnniveau in Alabama niedriger ist als in Massachusetts. Vermutlich wird auch in Deutschland in der absehbaren Zukunft kapitalintensiver und produktiver gearbeitet als im Süden der Währungsunion, so dass die Lohndifferenzen nicht verschwinden werden. Es gibt Schlimmeres.