Vor einigen Monaten ist in Frankreich ein fast tausend Seiten dickes (aber gut lesbares) Buch erschienen, das sich in der Tradition der großen Ökonomen des neunzehnten Jahrhunderts mit der Frage beschäftigt, wie und aus welchen Gründen sich die Einkommen und Vermögen in einer Volkswirtschaft verteilen, und welche Trends zu beobachten sind (Thomas Piketty: Le capital au XXIe siècle, 970 S., Paris, September 2013). Anders als seine Vorgänger vor mehr als 150 Jahren (Malthus, Ricardo, Marx) kann Thomas Piketty auf lange Zeitreihen zurückgreifen und seine Thesen auf diese Weise empirisch untermauern oder andere widerlegen, so etwa die von Kuznets aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Simon Kuznets, der als einer der Väter der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gilt, hatte behauptet, dass sich das pro-Kopf-Einkommen im Frühstadium der wirtschaftlichen Entwicklung zunächst ungleichmäßiger verteilt, dass die Ungleichheiten aber abnehmen, wenn das Land ein hohes Wohlstandsniveau erreicht hat; das ist die einst berühmte Kuznets-Kurve. Piketty zeigt – wie in letzter Zeit auch andere Autoren -, dass die These nicht aufrecht zu erhalten ist.
Die zunehmend gleichmäßigere Verteilung der Einkommen, die in der Zeit von 1900/10 bis 1950/60 in den Industrieländern zu beobachten war, lässt sich laut Piketty allein auf die kriegsbedingte Vernichtung des Kapitalstocks und die Reaktion der Finanz- und Sozialpolitik auf die diversen Schocks in dieser Zeit zurückführen.
Das Gleiche gilt für die Verteilung der Vermögen: Bis zum Ersten Weltkrieg hatte sich die Konzentration sowohl in Europa als auch in den USA stetig erhöht. Die reichsten 1-Prozent der Bevölkerung besaßen 1910 in Europa etwa 63 Prozent, in Amerika rund 45 Prozent des Kapitals. Danach kam es zu einer dramatischen Umverteilung zugunsten der ärmeren Schichten, vor allem in Europa, wo die Kriege viel tiefere Spuren hinterlassen hatten als auf der anderen Seite des Atlantiks. Seit etwa 1970 nimmt die Konzentration der Vermögen wieder zu, sie ist aber bei weitem noch nicht so stark wie vor 1914.
Für Piketty hatte sich der gesellschaftliche Konsens damals geändert – es war genug umverteilt worden. „Leistung muss sich wieder lohnen“ war das neue Motto in den reichen Ländern. Das zeigte sich vor allem daran, dass die Grenzsteuersätze und die Unternehmenssteuern gesenkt und der Finanzsektor liberalisiert wurde.
Grundsätzlich hänge die Verteilung von Einkommen und Vermögen davon ab, was in der Wirtschaft, in der Politik und bei den Sozialpartnern jeweils als gerecht gilt, weiterhin von den Machtverhältnissen sowie den „choix collectifs„, die sich daraus ergeben. Es gebe zwar aus ökonomischen Gründen einen Trend zur ungleichmäßigeren Verteilung, es liege aber an der Politik, das zu ändern und Fairness herzustellen – oder was zu bestimmten Zeiten für Fairness gehalten wird.
Vermögen stellt eine Einkommensquelle dar: Es generiert Zinsen, Dividenden und Mieteinnahmen. Daher sind die reichen Leute auch diejenigen, die auf der Einkommensskala ganz oben stehen. Je ungleicher die Vermögensstruktur, desto ungleicher sind auch die Einkommen verteilt. Um welchen Faktor die Vermögen die verfügbaren Einkommen übertreffen, hängt davon ab, wie hoch die gesamtwirtschaftliche Sparquote im Vergleich zur Zuwachsrate des realen BIP ist. In Ländern, die langsam wachsen – etwa weil die Bevölkerung nicht zunimmt – und gleichzeitig eine hohe Sparquote haben, wie Japan oder Italien, ist das Vermögen siebenmal höher als das Einkommen, oder mehr. Das bringt eine entsprechend ungleichmäßige Einkommensverteilung mit sich. Das ließe sich beheben durch rascheres Wachstum oder, soweit das nicht funktioniert, durch ein progressives Steuersystem und Transfers von Reich zu Arm.
Wie das nächste Schaubild zeigt, ist das Nettovermögen der privaten Haushalte in Deutschland im Vergleich zum verfügbaren Einkommen seit der Wiedervereinigung sowohl stetig als auch kräftig gestiegen. Das reflektiert sowohl das geringe Wachstum des Sozialprodukts als auch die hohe Sparquote.
Hinzu kommt, wie Piketty zeigt, dass die „Verzinsung“ des volkswirtschaftlichen Kapitalstocks erstaunlicherweise fast immer größer ist als das durchschnittliche Wirtschaftswachstum. Eigentlich sollte man meinen, dass die beiden Werte im Zeitverlauf annähernd gleich sind, denn je mehr Kapital vorhanden ist, desto weniger trägt es zur Wertschöpfung bei. Das ist die Theorie: Der sogenannte Grenzertrag des Kapitals sinkt. Tut er aber nicht, jedenfalls nicht im wirklichen Leben. Das wiederum bedeutet, dass das Vermögen rascher zunimmt als das Sozialprodukt und damit die Konzentration von Einkommen und Vermögen.
Mit anderen Worten, es gibt offenbar so etwas wie einen immanenten Trend in kapitalistischen Systemen in Richtung ungleichmäßiger Verteilung von Einkommen und Vermögen. Wenn die Mehrheit der Bürger etwas dagegen hat, müssen die Steuer- und Sozialgesetze entsprechend geändert werden. Unfaire Lebenschancen sind nicht gottgewollt.