Monatlich 500 Euro für jeden in der Währungsunion, bis Konsum, Beschäftigung, BIP-Wachstum und Inflation wieder anspringen! Wie wäre es? Die Bilanz des Euro-Systems schrumpft seit zwei Jahren und die Leitzinsen von nunmehr nur noch 0,15 Prozent haben bislang nichts daran ändern können, dass die Haushalte keine neuen Schulden machen wollen. Der sogenannte Transmissionsmechanismus von der EZB zur Endnachfrage funktioniert nicht mehr. Vielleicht ist der Umweg über die Banken einfach zu lang: Sie geben die Impulse der Geldpolitik wegen ihrer Bilanzprobleme, sprich ihrer vielen faulen Kredite, nicht an ihre Kunden weiter.
Ich weiß, dass das, was ich hier vorschlage, politisch keine Aussicht auf Erfolg hat. Mir ist klar, dass die Europäischen Verträge eine Staatsfinanzierung durch die Notenbank nicht zulassen. Es lohnt dennoch, ein bisschen out-of-the-box zu denken und sich auf das Gedankenexperiment einzulassen. Was würde passieren, wenn die EZB für eine zunächst unbefristete Zeit jedem der 330 Millionen Bürger der Währungsunion über die Finanzämter der Mitgliedsstaaten monatlich 500 Euro überweisen würde? Das wären im Jahr rund zwei Billionen Euro oder rund 20 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts. Um so viel würde die Bilanzsumme des Euro-Systems (der EZB) zunehmen. Wenn das nicht reichen sollte, die Konjunktur in Schwung zu bringen und der Deflationsfalle zu entkommen, müsste einfach weitergemacht werden. Ben Bernanke hat so etwas einst helicopter money genannt.
Da die Kaufzurückhaltung – und damit die wirtschaftliche Stagnation – viel damit zu tun hat, dass vor allem im Süden der Währungsunion viele Verbraucher überschuldet sind, wäre zu überlegen, wie sich diese Schulden vermindern lassen. Die meisten dieser Verbraucher haben zudem Angst um ihre Arbeitsplätze – sehr viele, deutlich mehr als hierzulande, sind zudem arbeitslos. Finanzkrisen ziehen sich bekanntlich deswegen lange hin, weil der Prozess der Entschuldung pro-zyklisch wirkt, also die Nachfrage dämpft. Es darf nicht dazu kommen, dass der Prozess japanische Dimensionen annimmt und noch weitere 15 Jahre dauert. Irgendwann wüsste man dann gar nicht mehr was der Begriff „Wirtschaftswachstum“ bedeutet. Es träte ein, was Ökonomen als Hysteresis bezeichnen – wichtige Fähigkeiten gehen im Laufe der Zeit verloren, wenn Ressourcen ungenutzt bleiben. Der rasche Abbau von Schulden im privaten Sektor ist das Wichtigste, wenn es darum geht, eine tückische Finanzkrise wie die jetzige zu überwinden.
Zurück zu meinem Vorschlag: Wenn beispielsweise eine vierköpfige spanische Familie in den kommenden zwölf Monaten auf einmal 24.000 Euro „geschenkt“ bekäme – und Oma und Opa noch einmal ihre 12.000 Euro dazu täten – könnte sie damit einen großen Schritt in Richtung Schuldenabbau und Schuldentragfähigkeit tun. Die Welt sähe für sie schon viel freundlicher aus; man könnte vielleicht sogar wieder einmal einen Einkaufstrip unternehmen oder einen Kredit beantragen.
Für Menschen mit niedrigem Einkommen – Arbeitslose, Rentner, Sozialhilfeempfänger –, auch solche ohne Schulden, wäre das Geld von der EZB so etwas wie das Manna aus der Bibel. Sie würden sich endlich das kaufen oder leisten, was sie sich erträumt hatten. Sie würden das Geld umgehend und vermutlich komplett ausgeben. Auch alle anderen, selbst die Wohlsituierten, würden sich nicht zieren, das Geld anzunehmen und irgendwie unter die Leute zu bringen. Vielleicht befürchten sie, dass die Sache kein gutes Ende nehmen würde, also in eine galoppierende Inflation ausarten könnte. Wenn morgen alles teurer ist, sollten Anschaffungen eher vorgezogen als aufgeschoben werden. Die Angst vor Inflation war noch stets ein probates Mittel gegen Kaufzurückhaltung. Zudem dürften die Bessergestellten, wenn sie wirklich Angst vor Inflation haben, einen Teil ihres Vermögens ins Ausland bringen und so tendenziell den Euro schwächen – das erhöht die Einfuhrpreise und wäre daher zumindest kurzfristig ein wünschenswerter Effekt.
Das alles lässt erwarten, dass sich ein Konsumboom entwickeln wird, vor allem, wenn die EZB von Vornherein klarstellt, dass es mit den monatlichen Überweisungen so lange weitergehen wird, bis die Inflation zwei Prozent erreicht hat, vielleicht sogar drei oder vier Prozent. Eine Anhebung des Inflationsziels hatte Olivier Blanchard, der Chef-Volkswirt des Internationalen Währungsfonds, schon vor einigen Jahren angeregt (damit die gefährliche Deflationsmentalität ein für alle Mal ausgerottet wird). Gleichzeitig müssten angesichts des Nachfrageanstiegs neue Leute eingestellt werden, die dann ihrerseits mehr Geld ausgeben würden. Für die Unternehmen wiederum vergrößerte sich der Spielraum für Preiserhöhungen, auch die Löhne könnten stärker steigen – sie sind auf der Kostenseite die wichtigste Determinante der Inflation. Ob es zudem durch einen schwächeren Wechselkurs des Euro zusätzliche Inflationsimpulse geben wird, lässt sich dagegen nicht mit einiger Zuversicht vorhersagen: Durch den Rückgang des Handelsbilanzüberschusses geht an den Devisenmärkten die Nachfrage nach Euro zurück, durch die Aussicht auf rascheres Wirtschaftswachstum und höhere Zinsen steigt sie, Ergebnis ungewiss.
There is no free lunch – Geschenke gibt es nicht, oder nur sehr selten. An dieser Stelle muss ein bisschen Buchhaltung betrieben werden. Wer wären die Gewinner und Verlierer eines solchen Programms?
Die staatlichen Schulden Euro-Lands belaufen sich brutto in diesem Jahr auf voraussichtlich 96 Prozent des BIP; durch das Sonderprogramm „500 Euro monatlich für Alle“ kämen in einem Jahr 20 Prozentpunkte hinzu. Allerdings würden die bessere Konsumkonjunktur und die anziehende Inflation (über die „kalte“ Progression) mehr Steuern in die Kassen spülen, während die Sozialausgaben langsamer zunehmen würden als erwartet, sodass im Jahresdurchschnitt 2015 vielleicht Schulden von 110 Prozent des BIP zu Buche stehen.
Die zusätzlichen Schulden sind nicht marktwirksam. Es handelt sich um direkte Transaktionen zwischen der Zentralbank und den Mitgliedstaaten – die ihre Verschuldung gegenüber der EZB um zwei Billionen Euro erhöhen. Mario Draghi würde nicht auf eine rasche Rückzahlung drängen und auch keine nennenswerten Zinsen verlangen (angenommen, er dürfte sich überhaupt auf eine Staatsfinanzierung einlassen – er darf es nicht!).
In gesamtstaatlicher Sicht könnte man die Transaktion als „linke Tasche, rechte Tasche“ bezeichnen. In Japan, wo die Renditen für 10-jährige Staatsanleihen heute bei nur 0,53 Prozent liegen, ist das gängige Praxis. Auch das quantitative easing der Fed war letztlich ein Ankauf staatlicher Papiere. Mit anderen Worten, es ist nicht unbedingt damit zu rechnen, dass die langen Zinsen steigen werden, nur weil die Bruttoschulden des Staates zunehmen.
Claudio Borio, einer der Vordenker bei der Basler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, hat kürzlich eine Grafik gezeigt, in der eine klare negative Korrelation zwischen stark zunehmenden globalen Schulden und realen Leitzinsen sowie realen Bondrenditen zu erkennen ist. In bestimmten, wenn nicht den meisten Situationen gehen steigende Schulden mit sinkenden Zinsen einher – weil Schulden in der Regel dann zunehmen, wenn die Kapazitäten schlecht ausgelastet sind und die Arbeitslosigkeit hoch ist, wenn das Umfeld also sinkende Inflationsraten und sinkende reale Zinsen begünstigt.
Durch das anhaltende Verteilen von Geld an die Bevölkerung Euro-Lands springt die Konjunktur an, die Outputlücke wird kleiner, die Inflation wird wiederbelebt. Die reale Schuldenlast vermindert sich rascher als bei der aktuellen Inflationsrate von lediglich 0,4 Prozent (Vorjahresvergleich). Das geht zulasten der Gläubiger, also vor allem der Sparer – ihre Forderungen entwerten sich schneller. Das wäre gewollt.
Die Strategie bewirkt eine temporäre Umverteilung der Einkommen zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten. Für den Sozialhilfeempfänger, der mit weniger als 1.000 Euro im Monat auskommen muss, sind 500 Euro zusätzlich etwas ganz Anderes als für jemanden, der 5.000 Euro verdient. Anders ausgedrückt, die Maßnahme begünstigt die Armen relativ mehr als die Reichen – das ist ein zusätzlicher Stimulans für die Konsumnachfrage und die Konjunktur.
Die Qualität der EZB-Bilanz bleibt im großen Ganzen erhalten – auf der Aktivseite sind ja Forderungen gegen die 18 Mitgliedsländer hinzugekommen, proportional zur Größe ihrer Bevölkerung. Damit geht der Anteil der Forderungen gegenüber Banken zurück. Selbst schlechte staatliche Schuldner wie Griechenland oder Portugal haben immerhin das Privileg, ihre Verbindlichkeiten durch höhere Steuern zu begleichen; Banken haben das nicht.
Wenn die Inflation eines Tages aus dem Ruder zu laufen droht, muss sich die EZB daran machen, Liquidität durch geringere Zuteilungen bei den Refinanzierungsgeschäften, Verkäufe von Bonds und höhere Mindestreserven abzuschöpfen. Zentralbanken wissen genau, was im Kampf gegen die Inflation zu tun ist.
Sie wissen dagegen nicht so recht, was die angemessene Strategie ist, wenn Deflation droht – Gelddrucken ist vermutlich neben niedrigen Leitzinsen die wichtigste Option. Zuletzt ist es bei der EZB leider in die entgegengesetzte Richtung gegangen. Ihre Bilanz ist stark geschrumpft.