Im Spätsommer, als der Ölpreis langsam ins Rutschen kam, behaupteten einige russische Ökonomen, dass sich 62 als die Zahl des Jahres erweisen könnte: Putin feierte im Oktober seinen 62. Geburtstag, der Ölpreis würde auf 62 Dollar fallen, und für einen Dollar wären im Dezember 62 Rubel zu zahlen. Keine schlechte Prognose, und eine mutige zudem. Denn damals kostete ein Fass der Sorte Brent noch 115 Dollar – jetzt sind es 60 Dollar –, während ein Dollar für 33,8 Rubel zu haben war – aktuell sind es 66,5 Rubel (ein Euro kostet heute Vormittag 82,3 Rubel). Das Ganze war eher als Witz gedacht und niemand hatte erwartet, dass es tatsächlich zu einem solchen Preisverfall und einer solchen Abwertung kommen würde. Nun hat die Wirklichkeit zugeschlagen und es ist viel schlimmer gekommen, als die Russen befürchtet hatten. Die Chefin der Notenbank schätzt, dass das reale BIP im nächsten Jahr um 4,25 Prozent zurückgehen dürfte, wenn der Ölpreis bei 60 Dollar bliebe.
Leidtragende sind vor allem die russischen Verbraucher: Die Preise für importierte Waren – Autos, Elektronik, Nahrungsmittel, Möbel – haben sich innerhalb eines halben Jahres verdoppelt, die Haushaltseinkommen sind dagegen nur um etwa fünf Prozent gestiegen. Und ein Umsteigen auf Produkte, die im Inland hergestellt werden, ist meist gar nicht möglich, weil die hohen Ölpreise der Vergangenheit verhindert hatten, dass sich eine eigenständige Industrie entwickeln konnte. Im Ausland ließ sich angesichts des festen Rubel und der gewaltigen Exporterlöse alles kaufen, wonach den Russen der Sinn stand. Die einzige bedeutende Ausnahme war und ist die Rüstungsindustrie, aber sie stellt nicht viel von dem her, was die Verbraucher gerne hätten.
Reisen an die Cote d’Azur, nach Thailand oder Goa, in die Schweiz oder die Türkei sind auf einmal unerschwinglich geworden. Die neuen Ziele dürften Krim und Sotschi heißen, wenn überhaupt noch Geld für den Urlaub vorhanden ist. Im Übrigen begünstigen der schwache Rubel und eine Inflationsrate von fast 10 Prozent eine Flucht in ausländische Devisen und russische Immobilien. Inzwischen ist der Leitzins allerdings von 10,5 auf 17 Prozent angehoben worden, so dass einerseits Rubelkonten real sehr attraktiv und andererseits die Finanzierung von Wohnungen und Häusern fast unerschwinglich teuer geworden ist. Beides verstärkt die Rezessionsrisiken. Der Boom am Immobilienmarkt dürfte in Kürze beendet sein.
Für die russische Regierung ist der Verfall des Ölpreises ein Schock. Da etwa die Hälfte der staatlichen Einnahmen an die Energiepreise gekoppelt ist, wird sich ein kleiner Budgetüberschuss rasch in ein gewaltiges Defizit verwandeln und zwingt sie, nicht nur Ausgaben für Investitionen (wie die Southstream-Pipeline) zu streichen, sondern auch für Gehälter und Sozialleistungen. Höhere Sätze bei der Einkommensteuer und den Verbrauchssteuern werden folgen. Bisher bestand der implizite gesellschaftliche Kontrakt darin, dass Putin ungehindert von jeglicher Opposition „durchregieren“ konnte und der Bevölkerung dafür im Gegenzug einen ständig steigenden Lebensstandard verschaffte. Damit ist Schluss, wenn Ölpreis und Wechselkurs da bleiben wo sie sind – oder noch weiter fallen. Bisher ist Putin sehr populär und daher ungefährdet. Schrittweise wird sich jetzt aber der Rückgang der Realeinkommen im täglichen Leben bemerkbar machen und sich immer weniger durch patriotische Appelle oder Verschwörungstheorien („es ist alles ein amerikanisches Komplott“) kompensieren lassen.
Im Grunde sind Abwertung und Ölpreisverfall genau das, was Russland braucht, um sich aus der Abhängigkeit von Rohstoffen zu befreien und die Wirtschaft auf ein breiteres Fundament zu stellen. Auf Dauer ist das extreme Auf und Ab des Wechselkurses, der Aktienmärkte und der Konjunktur, das durch diese Abhängigkeit verursacht wird, nicht förderlich für ein (middle income-) Land, das seinen Wohlstand langfristig deutlich steigern möchte. Je größer die Unsicherheit, desto höher sind die Investitionsprämien – und desto weniger wird investiert. Von den Ausgaben für Kapitalgüter aber hängt das Trendwachstum des realen BIP entscheidend ab. Rohstoffländer zeichnen sich zudem stets durch eine sehr ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen aus – auch das ist eine Wachstumsbremse, wie kürzlich etwa die OECD gezeigt hatte. Russland braucht dringend eine andere Wirtschaftsstruktur. Selten war das so offensichtlich wie zur Zeit. Es ist zu wünschen, dass die Krise in dieser Hinsicht als Chance begriffen wird.