Exklusiv aus dem Wirtschaftsdienst: Eine vertiefte Integration der Europäischen Union scheint derzeit alternativlos, die Frage der Flüchtlinge, die in die EU kommen, und die nicht enden wollende Griechenlandkrise unterstreichen dies. Die Uneinigkeit der Mitgliedstaaten, wenn es um die Lösung dieser dringenden Probleme geht, vermittelt aber immer wieder ein anderes Bild – den vermeintlichen Abbau von Gemeinsamkeiten. Von der Öffentlichkeit fast unbemerkt hat dagegen erst kürzlich der Präsident der Kommission, zusammen mit den Präsidenten des Rates, der Eurogruppe, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Zentralbank, eine Reformblaupause für die Währungsunion vorgelegt. Mit dem sogenannte Juncker-Papier wollen die fünf Präsidenten den Weg weisen, auf dem eine vertiefte Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalunion zu erreichen ist. Im Zeitgespräch der September-Ausgabe des Wirtschaftsdienst diskutieren acht Wissenschaftler (Ökonomen, Politologen und Juristen) die Vorschläge und den Stand der allgemeinen Debatte zur europäischen Integration.
Nachdem viele Wirtschaftswissenschaftler schon vor der Einführung des Euro davor gewarnt hatten, dass eine Währungsunion ohne eine vereinheitlichte Wirtschafts- und Finanzpolitik der teilnehmenden Staaten nicht funktionieren könne, können die Reformvorschläge jetzt als „Vervollständigung“ der Europäischen Währungsunion verstanden werden, die aber nicht unumstritten sind. Außerdem sind die einzelnen Schritte in dem Papier zum Teil sehr vage formuliert, und inwieweit bestehende Regelungen und Institutionen zu erweitern oder neue zu installieren sind, muss erst eine Expertenkommission im Detail ausarbeiten.
Darüber, wohin die Reise gehen soll, gibt es naturgemäß unterschiedliche Vorstellungen. Der Sachverständigenrat für Wirtschaft (hier mit vier seiner Mitglieder vertreten) fürchtet vor allem Integrationsschritte mit haushaltspolitischen Wirkungen, bei denen die Gefahr besteht, dass Haftung und Kontrolle auseinanderfallen und dass dadurch bedingt Schieflagen in der Anreizstruktur entstünden. Er nennt beispielhaft die Diskussion über eine europäische Arbeitslosenversicherung, von der Mitgliedstaaten mit verkrusteten Arbeitsmärkten eher begünstigt wären. Demgegenüber würde eine Insolvenzordnung für die Eurostaaten Unsicherheiten der Finanzinvestoren und damit einhergehende Übertreibungen bei den Zinssätzen gar nicht erst entstehen lassen.
Ganz anders sieht es aus, wenn man die Probleme in der Eurozone vor allem darin erkennt, dass ein Ausstieg gefährdeter Mitgliedstaaten überhaupt denkbar ist. Danach fehlt es gerade an Institutionen, die dafür sorgen, dass die monetäre Integration in der Eurozone unumkehrbar ist. Die vorgeschlagenen „Euro-Governance-Reformen“ gehen von daher nicht weit genug.
Und auch die politische Dimension wird vermisst. So ist nicht geklärt, welche demokratischen Institutionen geschaffen werden sollen, um die Legitimation der Wirtschaftspolitik zu stärken. Außerdem gäbe es grundsätzliche Unterschiede in der Auffassung, wie diese gestaltet werden solle: die einen möchten eine „Wirtschaftsregierung“ mit allen Machtbefugnissen, unter anderem mit Fiskalkompetenz. Andere bevorzugen eine „Wirtschaftsverfassung“ – eine unpolitische Union mit verbindlichen Regeln, die mithilfe unabhängiger Entscheider und automatischer Stabilisatoren durchgesetzt werden.
Sobald Reformen Änderungen der europäischen Verträge erforderlich machen, wird es kritisch. Insbesondere wenn diese mit dem Verzicht auf nationale Souveränitäten verbunden sind, sei es fraglich, ob sie zurzeit überall die notwendige Zustimmung durch die Bürger bekommen würden, sei es indirekt durch die Parlamente oder direkt durch Volksabstimmungen. Helfen könnte hier sicher eine Diskussion über die Zukunft der EU in einer europäischen Öffentlichkeit. „Die EU kommt nur mit Hilfe einer engagiert geführten europäischen Debatte aus der Defensive“, schreibt Jörg Philipp Terhechte in seinem Beitrag.
Soweit der kurze Aufriss des aktuellen Wirtschaftsdienst-Zeitgesprächs, das als Teil dieser europäischen Debatte zu verstehen ist.
Zeitgespräch: Europäische Union – Vertiefung möglich und nötig?, in: Wirtschaftsdienst 9/2015, S. 583-602 (mit folgenden fünf Beiträgen: „Europäische Integration klug vorantreiben“ von Lars P. Feld, Christoph M. Schmidt, Isabel Schnabel und Volker Wieland; „Ein paar gute Ideen ergeben noch keine sinnvolle Strategie“ von Sebastian Dullien; „Politische Union: Konzepte, Visionen und Realitäten“ von Michael Wohlgemuth; „Das Ende der Vertiefung – oder das Ende der Politik?“ von Stephan Leibfried; „Eine immer engere Union der Völker Europas“ von Jörg Philipp Terhechte)