Der wesentliche Faktor, der seit Jahren bei uns, genau wie in allen anderen Industrieländern, die Einkommensverteilung zugunsten der Kapitalbesitzer verschoben hat, wird in absehbarer Zeit keine Rolle mehr spielen – das weltweite Überangebot an Arbeit. Wir bekommen es von nun an aus demografischen Gründen mit einer neuen Knappheit an Arbeitskräften, stärker steigenden Reallöhnen, einer kräftigeren Zunahme der Geldentwertung und der Produktivität sowie höheren Realzinsen zu tun. Das ist zumindest die These von Charles Goodhart von der London School of Economics, der kürzlich zusammen mit zwei Mitarbeitern für die Investmentbank Morgan Stanley eine Studie zu diesem Thema vorgestellt hatte. Sie sorgt in der britischen Presse für Furore (Economist, Telegraph, Guardian, FT). Hätten die Autoren Recht, könnten Deflationspessimisten wie ich demnächst einpacken.
Ich will ihre These im Folgenden einmal aus deutscher Sicht unter die Lupe nehmen.
Laut Goodhart hat sich die Anzahl der Beschäftigten, die in die internationale Arbeitsteilung eingebunden sind, seit 1990, dem Ende des Kommunismus, etwa verdoppelt, auf rund anderthalb Milliarden, vor allem durch die Teilnahme der chinesischen und osteuropäischen Erwerbstätigen. Das hatte die Verhandlungsposition der Arbeitgeber in den OECD-Ländern entscheidend verbessert – wenn ihnen Lohnforderungen zu hoch vorkamen, konnten sie damit drohen, die Produktion nach Ostasien oder Polen zu verlagern. Allein schon diese neue Option hatte die Gewerkschaften handzahm gemacht. In der Folge stagnierten die Reallöhne. Wie die erste Grafik zeigt, gilt das nicht zuletzt für Deutschland – hier war der Effekt sogar besonders ausgeprägt, wie uns von ausländischen Volkswirten und Politikern immer wieder vorgehalten wird.
Da der gesamtwirtschaftliche Output der OECD-Länder im vergangenen Vierteljahrhundert aber weiterhin zunahm – nicht zuletzt wegen der starken Nachfrage aus den Schwellenländern – , schlug sich das zum Einen in einem steigenden Anteil der Gewinne am Volkseinkommen nieder, zum Anderen in einer Zunahme der Beschäftigung, also der Nachfrage nach Arbeit. Insgesamt war das Wirtschaftswachstum jedoch wegen der Investitionsschwäche und der nur langsam steigenden Haushaltseinkommen deutlich geringer als in der Zeit vor 1990.
Goodhart argumentiert, dass die Lohnzurückhaltung für die Unternehmen den Anreiz minderte, kapitalintensiver, also arbeitssparender zu produzieren. Investitionen waren nicht mehr so lohnend wie zuvor. Sie nahmen nur noch langsam zu, so dass auch der Output pro Stunde immer langsamer zunahm. In Deutschland ist das seit vielen Jahren zu beobachten.
Ohne Lohninflation gibt es normalerweise keine allgemeine Inflation. Löhne machen schließlich etwa zwei Drittel der gesamtwirtschaftlichen Kosten aus. Hinzu kam, dass die Kapazitätsauslastung wegen des schwachen BIP-Wachstums abnahm, was es den Unternehmen praktisch unmöglich machte, ihre Preise zu erhöhen. In dem Maße, wie die Inflationsraten zurückgingen, schwand die Inflationsfurcht und wandelte sich zunehmend in eine Deflationsfurcht. Nach dem Beginn der globalen Finanzkrise vor inzwischen acht Jahren ging es für die EZB und die anderen Zentralbanken zunächst darum, durch niedrige Leitzinsen die Wirtschaft zu stimulieren; nachdem das weitgehend gelungen war, die Inflation aber nicht ansprang, sondern sich vielmehr in Richtung Null bewegte, verlagerte sich das geldpolitische Bemühen darauf, eine Deflation mit allen erdenklichen Mitteln zu verhindern. Bisher hat sich der Erfolg noch nicht eingestellt. In Deutschland waren die Verbraucherpreise im September nicht höher als vor einem Jahr; negative Inflationsraten bei den Einfuhren und den Produkten der inländischen Unternehmen bedeuten, dass zurzeit nicht Inflation, sondern Deflation in der Pipeline steckt.
Bis zu diesem Punkt habe ich mit Goodhards Story keine Probleme. Kritisch wird es für mich, wenn er aus der weltweit rückläufigen Geburtenraten, der Stagnation und dann dem Rückgang der Weltbevölkerung ab etwa 2040, auf ein zunehmendes Missverhältnis zwischen der aktiven und nicht-aktiven Bevölkerung schließt und daraus ableitet, dass das Arbeitsangebot knapper und relativ teuer wird. Noch nie seit Menschengedenken war die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer so ungünstig wie heute, wir seien aber inzwischen an einem Wendepunkt, von dem an sich ihre Lage bessern wird, insbesondere ihr Anteil am Volkseinkommen.
Meiner Ansicht nach gibt es diesen Automatismus nicht. Hierzulande haben wir schon seit Längerem mit einem Schrumpfen der Anzahl Menschen im arbeitsfähigen Alter zu tun. Das hat sich bisher kaum auf die Löhne ausgewirkt. Vielmehr ist der Anteil der Erwerbspersonen an der Gesamtbevölkerung kontinuierlich, man kann sogar sagen dramatisch gestiegen. Durch neue Gesetze zur Lebensarbeitszeit, Absprachen zwischen den Tarifpartnern, eine steigende Erwerbsquote der Frauen (die ja im Schnitt weniger Kinder und damit mehr Zeit für einen Job haben), die bessere Gesundheit der Älteren und die zunehmend weniger auskömmliche Sozialrente haben zusammen verhindert, dass es zu einem Mangel an Arbeitskräften gekommen ist. Das Gegenteil war der Fall.
Durch die Flut von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Afrika wird es einen weiteren Schub beim Angebot von Arbeitskräften geben, nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten Währungsunion. Vor allem wandern ja junge Männer zu, die in der Regel ihre Frauen und Kinder nachholen werden. Alle demographischen Probleme (so es wirklich welche gibt) lassen sich lösen, indem man pro Jahr etwas mehr als eine Million Ausländer hereinlässt. Ein Teil davon ersetzt im Übrigen lediglich die deutschen Auswanderer.
Mit anderen Worten, es gibt eine Menge Stellschrauben, an denen sich drehen lässt. Probleme werden dann angegangen, wenn sie auftreten und als solche erkannt werden. Jedenfalls sollten sich die Arbeitnehmer in einem reichen Land wie Deutschland nicht darauf verlassen, dass die Demographie im Kampf um die Anteile am Volkseinkommen ihr Verbündeter ist. Demographische Trends mögen helfen, aber für’s Erste müssen sie sich vor allem dafür einsetzen, dass das Sozialprodukt und mit ihm die Produktivität rascher zunehmen als in den vergangenen Jahrzehnten. Wachstum hilft ihnen, nicht das Altern der Gesellschaft.