Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Mehr Zuwanderung, mehr Wachstum

 

Im ersten Quartal ist die deutsche Wirtschaft endlich wieder einmal kräftig expandiert. Sie ist sogar richtig in Schwung gekommen und es könnte sein, dass sich das fortsetzt. Für eine optimistische Sicht der Dinge spricht vor allem, dass sich die positiven Effekte der Zuwanderung von Ausländern in den Zahlen für das Sozialprodukt noch nicht sehr bemerkbar gemacht haben. Weil sie den Staat zu höheren Ausgaben zwingen und den Wohnungsbau und die Ausgaben für den privaten Konsum stimulieren, werden sie aber nicht ausbleiben. Auch die ultralockere Geldpolitik, der schwache Euro, die immer noch zügige Zunahme des Welthandels, die großen Spielräume in den staatlichen Haushalten und ein geradezu boomender Arbeitsmarkt sind Teil des zurzeit überaus erfreulichen konjunkturellen Gesamtbilds.

Mehr Zuwanderung, mehr Wachstum

Das reale BIP war in den ersten drei Monaten des Jahres gegenüber dem Vorquartal um 0,7 Prozent gestiegen. Wenn ich das auf angelsächsische Art mit den saisonbereinigten Zahlen der Bundesbank auf ein ganzes Jahr hochrechne, ergibt sich eine Jahresrate von 2,7 Prozent. Getragen wurde der Anstieg insbesondere von einer robusten Bautätigkeit und den Ausrüstungsinvestitionen. Die Ausgaben des Staates hatten zwar zugenommen, aber anders als in den vier Quartalen zuvor nur unterdurchschnittlich. Auch die Zunahme des privaten Verbrauchs hat eher enttäuscht – sie passt vor allem nicht zu den Zahlen für die Beschäftigung. Diese war innerhalb des letzten Jahres um mehr als eine halbe Million Erwerbstätige gestiegen; vom vierten Quartal 2015 auf das erste Quartal dieses Jahres errechnet sich eine Jahresrate von nicht weniger als 1,7 Prozent. Sie passt ebenso wenig zum Anstieg der realen Masseneinkommen (plus 3,7 Prozent für Q1 2016 gegenüber Q1 2015). Erneut kamen diesmal vom Ausland zum dritten Mal in Folge leicht negative Impulse. Das wird sich erfahrungsgemäß demnächst wieder ins Positive wenden.

Eine Wachstumsrate von 2,7 Prozent klingt nach viel, aber nur im Vergleich zu dem, an was wir uns seit der Finanzkrise gewöhnt haben. Es ist bei Weitem nicht das, was wir uns für ein Aufschwungjahr wünschen. Nach wie vor liegen in Deutschland beträchtliche Kapazitäten brach. Sie warten darauf, besser genutzt zu werden. Nur wenn das gelingt, kann die Inflationsrate wieder in die Nähe ihres Zielwerts von knapp unter zwei Prozent kommen. Zuletzt lag sie bei minus 0,1 Prozent.

Wie wird es weitergehen? Die meisten Analysten erwarten, dass das reale BIP im zweiten Quartal gegenüber dem ersten nur um 0,25 Prozent zulegen wird, vor allem weil im Bau durch den milden Winter Aufträge vorgezogen und abgearbeitet wurden, die jetzt fehlen. Außerdem startet das Quartal wegen des schwachen März von einer niedrigen Basis. Das sind natürlich nur technische Argumente. Ab Mitte des Jahres soll das BIP jedenfalls wieder in Fahrt kommen, sodass sich für das Jahr insgesamt eine Zuwachsrate von 1,6 bis 1,9 Prozent ergibt. Für das Jahr 2017 werden allgemein Werte in ähnlicher Größenordnung vorhergesagt. Wir haben es hier offenbar mit einer neuen Normalität für eine Aufschwungphase zu tun. So lässt sich die große Outputlücke jedenfalls auch in vielen Jahren nicht schließen. Ich sehe allerdings nicht, dass sich irgendjemand groß über das mickrige Wachstum aufregt – vermutlich, weil es am Arbeitsmarkt so gut läuft. Es ist zum Weinen.

Grafik: Reales BIP Deutschlands mit Trend, 1991Q1-20016Q1

Könnten es nicht für eine Weile ein paar Prozentpunkte mehr sein? Wie erwähnt, befinden sich die Verbraucher in einer so günstigen Situation wie schon lange nicht mehr. Da auf den privaten Konsum 58 Prozent der Inlandsnachfrage entfallen, wäre viel gewonnen, wenn die Haushalte weniger zurückhaltend wären. Jedenfalls haben sich ihre Realeinkommen in letzter Zeit kräftig verbessert. Auf die günstige Situation am Arbeitsmarkt hatte ich schon hingewiesen. Vielleicht sind nicht alle neuen Jobs besonders attraktiv oder sicher, aber wer arbeiten will oder muss, dürfte im Allgemeinen bei der Arbeitssuche keine Probleme haben. Wenn es noch Lohntüten gäbe, würde es in ihnen jetzt und auf absehbare Zeit klingeln. Zwar sind die effektiven Erhöhungen der tariflichen Stundenlöhne von aktuell knapp 2,5 Prozent alles andere als toll, aber angesichts einer Inflationsrate von null und Laufzeiten von fast zwei Jahren ergeben sie doch eine solide finanzielle Grundlage für größere Konsumausgaben.

Kommt hinzu, dass die nominalen Sozialrenten in diesem Sommer um rund 4,5 Prozent angehoben werden, sodass auch der ältere Teil der Bevölkerung an der Zunahme der Einkommen teilnehmen wird. Schließlich darf in diesem optimistischen Szenarium nicht der Hinweis fehlen, dass es anders als im übrigen Euroraum hierzulande gesamtwirtschaftlich keine Schuldenprobleme gibt und insbesondere die Haushalte nicht gezwungen sind, ihre Gürtel enger zu schnallen. Es gab ja keine Immobilienblase, die hätte platzen können; vielmehr verfügen die Verbraucher im Durchschnitt über beträchtliche finanzielle Reserven. Kaum jemand muss den finanziellen Ruin fürchten, wenn er mal wieder eine größere Anschaffung macht.

Ich muss hier anmerken, dass ich regelmäßig die Dynamik des privaten Verbrauchs in Deutschland überschätze. Die Leute sind vorsichtiger, als ich das wahrhaben möchte oder für plausibel halte. Vielleicht hat es etwas mit der zunehmend unfairen Verteilung von Einkommen und Vermögen zu tun. Aber das ist für mich eher eine negative Strukturkonstante, die für den aktuellen Rand nicht sonderlich relevant ist. Anzeichen, dass sich die Einkommensverteilung 2016 noch einmal zulasten der kleinen Leute verschiebt, sehe ich nicht.

Ziemlich gut abgesichert ist der weitere konjunkturelle Aufschwung am Bau. Das hat eine Menge mit dem rasanten Wachstum der Bevölkerung zu tun, also der Zuwanderung aus dem Ausland, aber auch mit Nachholbedarf nach vielen Jahren verhaltener Bautätigkeit sowie den äußerst attraktiven mittel- bis langfristigen Hypothekenzinsen. Wer daran glaubt, dass die inflationsgeschützten Staatsanleihen gute Prognosequalitäten besitzen und es der EZB demnach in einigen Jahren gelingen wird, die Inflationsrate in die Nähe des Zielwerts zu treiben, kann sich real zurzeit fast zu einem Zins von null verschulden. Es tut sich was am Bau. Vom vierten auf das erste Quartal sind nach den saisonbereinigten Zahlen der Bundesbank beispielsweise die Genehmigungen im Wohnungsbau (gemessen an den veranschlagten Kosten) mit einer Jahresrate von 47,3 Prozent gestiegen und das Statistische Bundesamt meldet einen Anstieg bei der Zahl der genehmigten Wohnungen von 30,6 Prozent gegenüber dem ersten Quartal 2015.

Grafik: Auftragseingang im Wohnungsbau, 199Q1-2016Q1

Um diese Zahlen zu relativieren: Das Baugewerbe macht zurzeit nur noch 4,9 Prozent der Bruttowertschöpfung aus. Lange Zeit war zusätzlicher Wohnraum für die alternde deutsche Gesellschaft keine Priorität. Das ändert sich gerade rapide. Das Schöne an einem Bauboom ist, dass er beträchtliche Folgeausgaben mit sich bringt, etwa für die Infrastruktur, für fotovoltaische Anlagen, Möbel, Teppiche, Küchengeräte und so fort.

Für einen breiten und damit stabilen weiteren Wirtschaftsaufschwung spricht nicht zuletzt, dass die Ausrüstungsinvestitionen angesprungen sind. Es wurde höchste Zeit. Die Nettoinvestitionen, die für die Expansion des Kapitalstocks und damit die Wachstumsrate der Produktivität entscheidend sind, machten in den vergangenen Jahren kaum mehr als zwei oder drei Prozent des BIP aus. In den 1990er Jahren waren es im Schnitt gute sieben Prozent. Die deutschen Unternehmen investieren eine Menge, nur findet der Zuwachs leider (oder nicht leider) vorwiegend im Ausland statt. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, aber es stimmt positiv, dass die realen Ausrüstungen in den ersten drei Monaten des Jahres 3,8 Prozent höher waren als vor einem Jahr, und dass die Verlaufsrate vom vierten auf das erste Quartal 8,0 Prozent betrug.

Um nicht gegenüber den internationalen Wettbewerbern zurückzufallen, müssen die Unternehmen mehr investieren als bisher. Die leicht anziehende Lohninflation, die sich in einem rascheren Anstieg der Lohnstückkosten niederschlägt, ist ein zusätzlicher Grund, im Inland entschlossener nachzurüsten. Es wird oft übersehen, dass stärker steigende Löhne eine kapitalintensivere Produktion erfordern. Zwar ist die deutsche Wirtschaft weit von einer Lohn-Preis-Spirale entfernt; die Tatsache, dass die Erzeugerpreise gewerblicher Produkte im ersten Quartal um 2,9 Prozent niedriger waren als vor einem Jahr, die Lohnstückkosten im produzierenden Gewerbe aber um 1,8 Prozent höher, dürfte bei den Unternehmern die Alarmglocken schrillen lassen. Gewinne gibt es nicht ohne aggressivere Investitionsstrategien. Wer Interesse an einem nachhaltigen Aufschwung hat, wird diesen marktwirtschaftlichen Mechanismus gut finden.

Insgesamt ist der Boden bereitet für deutlich höhere Wachstumsraten des realen BIP. Ich bin mir sicher, dass wir demnächst auch im Vorjahresvergleich eine Zwei vor dem Komma sehen werden, und ich schließe eine Drei oder sogar eine Vier nicht aus. Ich weiche damit stark von den Konsensprognosen der Analysten ab.