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EU vor der Zerreißprobe?

 

Logo: Wirtschaftsdienst - Zeitschrift für WirtschaftspolitikExklusiv aus dem Wirtschaftsdienst: „Wie sieht die Zukunft der Europäischen Union aus?“, fragt der Wirtschaftsdienst in seiner aktuellen Ausgabe fünf EU-Experten. Die einhellige Antwort ist: düster. Die Krise der EU wird an vielfältigen Uneinigkeiten sichtbar. Von einer einheitlichen solidarischen Haltung beim Umgang mit den von der Finanzkrise gebeutelten Staaten konnte nicht die Rede sein und in der Migrationskrise macht jeder Staat, was ihm aus nationalen Erwägungen opportun erscheint. Die Akzeptanz der Europäischen Union geht bei ihren Bürgern zurück und populistische Parteien versuchen, von diesem Unbehagen zu profitieren.

Gisela Müller-Brandeck-Bocquet, Professorin für Europaforschung und Internationale Beziehungen an der Universität Würzburg, sieht die Volksabstimmung in Großbritannien am 23. Juni als ein sichtbares Zeichen für diese Entwicklung. Aber auch wenn der Brexit vermieden werden kann, wenn sich die Briten also für einen Verbleib in der EU aussprechen, sei wenig gewonnen. Denn die bereits ausgehandelte Sonderstellung Großbritanniens könnte andere Mitgliedstaaten dazu veranlassen ebenfalls Sonderregelungen einzufordern. Vor allem das Versagen der EU-Politik, „die ‚Völker Europas‘ zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenzuschweißen“, sieht sie als Kernproblem Europas an – es seien die „weichen“ Bauelemente, bei denen die europäische Integration versagt hat. Aber auch ganz konkret das Verschleppen einer Einigung über die soziale Dimension Europas identifiziert sie als einen Kardinalfehler. Ein tragfähiges Zukunftskonzept kann jetzt nur noch ein Kerneuropa sein, das sich um die Achse Deutschland-Frankreich schart, weshalb sich die Erfolge des Front National dort besonders schädlich auswirken.

Das sieht Jürgen Neyer, Professor für Politikwissenschaft und Sozialwissenschaft an der Europa-Universität Viadrina, genauso. Hilfe erhofft er sich von einer europäischen Wirtschaftsregierung: „Diese neue Instanz sollte mit eigenem Budget und Kompetenzen in der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ausgestattet sein und durch eine spezifische Kammer des Europäischen Parlaments kontrolliert werden. Sie würde über Mittel für Investitionen in gemeinsame Anliegen verfügen und über zulässige Abweichungen von der Umsetzung der Maastricht-Kriterien entscheiden können.“ Vor allem der europäische Entscheidungsfindungsprozess habe dazu beigetragen, dass sich die fundamentalen Differenzen nicht auflösen lassen. Würde das Einstimmigkeitsprinzip weniger häufig angewandt, könnte es im politischen Streit zu den notwendigen Entscheidungen kommen. Der Autor fürchtet aber: „Wenn sich die aktuellen Entwicklungen weiter fortsetzen, dann wird Europa in zwanzig Jahren ein Projekt der Vergangenheit sein […] Die Betonung der Bedürfnisse des eigenen ‚Volkes‘ wird dann an die Stelle der gemeinschaftlichen Wirtschaftsintegration treten.“

Daniela Schwarzer, Leiterin des Europaprogramms beim German Marshall Fund of the United States, sieht das nicht so dramatisch. Sie vermutet, dass sich die Differenzierung innerhalb der Europäischen Union verstärken wird. So ermöglicht der Lissabon-Vertrag für einige Mitglieder eine verstärkte Zusammenarbeit, während andere außen vor bleiben können. In diese Richtung wird die Europäische Union wohl voranschreiten: „Der Preis wäre eine größere Unübersichtlichkeit und erhöhte Anforderungen daran, ein Auseinanderdriften zu verhindern. Allerdings könnte die Zunahme von modularen Integrationsformen einhergehen mit einer Gruppe von Staaten, die als Vollmitglieder der Gemeinschaft tiefer integriert sein dürften, als dies selbst für die Eurozonen-Staaten heute der Fall ist.“

Vor allem am institutionellen Design nach der Finanzkrise arbeiten sich Jens Hölscher, Professor an der Business School der Bournemouth University, und Horst Tomann, emeritierter Professor der Freien Universität Berlin, ab. Es fehlte ganz offensichtlich an der Bereitschaft, gemeinsame Verantwortung zu tragen. Nach der Krise war die Europäische Zentralbank der einzige handlungsfähige Akteur. Sie war allerdings zur Bewältigung der komplexen Probleme nicht mit den notwendigen Instrumenten ausgestattet. So muss sie zur Durchführung ihres Kaufprogramms nationale Staatsanleihen nutzen. „Der institutionelle Mangel, der hier sichtbar wird, könnte durch Eurobonds behoben werden. Mit Eurobonds würden der Zentralbank genügend liquide Wertpapiere zur Verfügung stehen, um in den Finanzmärkten zu intervenieren und ihre geldpolitischen Aufgaben zu erfüllen.“

Lesen sie hier ausführlich das aktuelle Wirtschaftsdienst-Zeitgespräch:

EU vor der Zerreißprobe – wie sieht die gemeinsame Zukunft aus?, in: Wirtschaftsdienst 6/2016, S. 383-396 (mit folgenden vier Beiträgen: „Was hält die Europäische Union zusammen?“ von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet; „Für eine Neugründung Europas“ von Jürgen Neyer; „Desintegration und Differenzierung – auf dem Weg zu einem anderen Europa“ von Daniela Schwarzer; „Das institutionelle Design der EU nach der Finanzkrise“ von Jens Hölscher und Horst Tomann)