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Der Wachstumsschock

 

Wenn die Volkswirtschaft Eurolands seit 2008 so rasch gewachsen wäre wie in den vorangegangenen zehn Jahren, lägen BIP und Einkommen um etwa 20 Prozent über dem aktuellen Niveau. Pro Einwohner wäre das reale BIP um rund 6.600 Euro höher als es tatsächlich ist. Ähnliches gilt für die USA und für Japan. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen BIP ist im Euroland von 2,4 im Zeitraum 1998 bis 2007 auf 0,3 Prozent in den Folgejahren gesunken, in den USA von 3,0 auf 1,3 Prozent, und in Japan von 1,0 auf 0,2 Prozent.

Da gleichzeitig die Anzahl der Jobs zugenommen hat, ist das BIP pro Beschäftigten seit dem Beginn der Finanzkrise de facto kaum mehr gestiegen. Nur in den oberen Einkommensschichten gab es noch nennenswerte Zuwachsraten, was erklärt, warum überall in der westlichen Welt Parteien und Kandidaten erfolgreich sind, die mit eingängigen und schlichten, wenn auch meist falschen Rezepten die Situation der wirtschaftlich Zurückgebliebenen verbessern wollen – und das ist die Mehrheit. Wenn die bisherigen Rezepte so offensichtlich nur für Wenige den Lebensstandard gesteigert haben, finden diejenigen immer leichter Gehör, die populistische Alternativen anbieten.

Was ist los? Bisher dämmert es den Ökonomen, Marktteilnehmern und Politikern nur langsam, dass wir es mit einer dauerhaften Wachstumsschwäche zu tun haben könnten. In den Prognosen der vergangenen Jahre wurde regelmäßig erwartet, dass sich Wachstum und Inflation schon wieder beschleunigen würden, und mit ihnen die Leitzinsen der Notenbanken ebenso wie die längerfristigen Bondrenditen steigen. Der Internationale Währungsfonds hat in seinem neuen World Economic Outlook zwei Grafiken veröffentlicht, die zeigen, wie sehr der Markt als auch die eigenen Volkswirte in letzter Zeit mit dieser Sicht der Dinge danebenlagen. (Ich gebe sie hier mit deutschen Beschriftungen wieder.) Statt wie erwartet zu steigen sind die Zinsen sowohl am kurzen als auch am langen Ende regelmäßig gesunken, und zwar sowohl real als auch nominal.

Grafik: US-Leitzinserwartungen
Grafik: IWF Prognosen für die langfristigen Zinsen

Die beiden Grafiken sind ein Beleg dafür, dass die Analysten nicht verstehen oder nicht wahrhaben wollen, dass sowohl die Realzinsen als auch die Inflationsraten auf absehbare Zeit niedrig bleiben werden. Verantwortlich ist dafür zum Einen der stetige Rückgang in den Zuwachsraten der Produktivität, zum Anderen weltweit beträchtliche ungenutzte Kapazitätsreserven, die es erschweren oder sogar unmöglich machen, die Preise und Löhne auf gewohnte Weise zu erhöhen. Solange die Barrieren für die Exporte und Importe von Waren sowie für Kapitalströme niedrig bleiben, wird der erbarmungslose internationale Preiskampf um Kunden weitergehen. Da, wo sich Arbeitnehmer frei in anderen Ländern Jobs suchen können und die Lohnniveaus sehr unterschiedlich sind – wie in der EU –, kommt es zu Wanderungen, die den Druck auf Preise und Löhne zusätzlich erhöhen. Ob das Deleveraging, der Schuldenabbau nach den Schuldenexzessen vor der Finanzkrise, noch eine Rolle spielt, ist nicht sicher, tendenziell dürfte dieser Faktor jedenfalls mit zur allgemeinen Nachfrageschwäche und Disinflation in den OECD-Ländern beitragen.

Die Notenbanken können gegen diese Trends nur wenig ausrichten. Wenn sie die Leitzinsen nicht mehr weiter senken können, weil sie die Nulllinie erreicht haben, sind sie ohnehin im Wesentlichen mit ihrem Latein am Ende.

Während es aus den genannten Gründen einigermaßen plausibel ist, dass die Inflation auf Jahre hinaus niedrig bleiben wird und der Kampf gegen die Deflation keineswegs gewonnen ist, jedenfalls solange die sogenannten Faktorpreise international so weit auseinander liegen, ist völlig unklar, warum die Produktivität jegliche Dynamik verloren hat und die Realzinsen so stark gesunken sind.

Die nächsten beiden Grafiken zeigen die enge Korrelation zwischen der Entwicklung der Produktivität und den Realzinsen am Bondmarkt. Sie zeigen auch, dass es sich um ein globales Phänomen handelt und Unterschiede in der Effektivität der Wirtschaftspolitik offenbar keine, oder nur eine geringe Rolle spielen. Die Amerikaner kämpfen mit den gleichen Problemen wie Europäer und Japaner.

Grafik: Entwicklung der Arbeitsproduktivität (1960-2016) in ausgewählten Ländern
Grafik: Entwicklung der realen Rendite 10-jähriger Staatsanleihen in ausgewählten Ländern seit 1982

Wenn nicht zu erwarten ist, dass das Wachstum der Produktivität wieder nachhaltig anspringt, ist auch nicht damit zu rechnen, dass die Realzinsen wieder ihre früheren Niveaus erreichen werden. Wo die erwarteten Erträge zusätzlicher Investitionen real zwischen null und ein Prozent liegen (oder, wie zuletzt in den USA, sogar negativ sind), werden Schuldner und Kreditnehmer nur entsprechend niedrige Zinsen zahlen – worunter wiederum die Zinserträge der Sparer und Kreditgeber leiden. Ohne Wirtschaftswachstum gibt es kein Zinseinkommen, jedenfalls nicht im Durchschnitt.

In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur gibt es noch keinen Konsens, warum denn das Wachstum der Produktivität so stark nachgelassen hat und ob es demnächst wieder an Fahrt gewinnt. Wie so oft in der Ökonomie, können die Ursachen auf der Angebots- oder auf der Nachfrageseite liegen.

Um mit der Angebotsseite zu beginnen: Nach Robert Gordon von der Northwestern University ist die sogenannte digitale Revolution bisher eine einzige Enttäuschung. Noch wurde nichts erfunden, was einen Produktivitätsschub auslösen könnte, nichts, was in seinen Wirkungen an die Dampfmaschine, die Elektrizität, die städtischen Netze für Wasser, Gas und Strom, den Verbrennungsmotor, das Telefon, das Penicillin oder das Flugzeug herankommt. Die Kommunikation und der Zugang zum Wissen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verbessert, aber eben nur verbessert. Da das so ist, wird es beim allgemeinen Lebensstandard in den reichen Ländern nur marginale Fortschritte geben.

Außerdem hängen die Produktivitätsgewinne davon ab, wie groß der Kapitalstock einer Volkswirtschaft bereits ist. Er umfasst nicht nur Sachkapital sondern auch Humankapital, also Dinge wie berufliche Qualifikation, Arbeitsethos und Chancengleichheit. Wenn der Kapitalstock bereits sehr groß ist, sind die Zusatzerträge von Investitionen naturgemäß eher bescheiden. In einer solchen Situation befinden sich die meisten OECD-Länder.

Nach dem klassischen Say’schen Gesetz schafft sich das Angebot seine eigene Nachfrage – indem die Menschen arbeiten und Güter und Dienstleistungen herstellen, erzielen sie Einkommen, mit dem sie diese Güter und Dienstleistungen kaufen können. Da das Angebot in den entwickelten Ländern aber nur wenig Eigendynamik hat, sind von diesem Mechanismus keine Wunder zu erwarten.

Vielleicht gibt es jedoch so etwas wie eine Inverse von Say’s Law, dass nämlich die Nachfrage das Angebot bestimmt. Aber in dieser Beziehung hapert es ebenfalls: Die Reallöhne steigen als Folge des intensiven internationalen Wettbewerbs nur sehr langsam, wenn überhaupt, die Kapazitäten sind nur schwach ausgelastet (sonst wären ja die Inflationsraten nicht so niedrig wie sie sind), warum sollen die Unternehmen da viel investieren? Und, wie erwähnt, auch das Deleveraging könnte immer noch ein nachfragebremsendes Thema sein.

Mit anderen Worten, wenn die Finanzpolitik nicht massiv auf der Nachfrageseite eingreift, da von der Geldpolitik nichts mehr groß zu erwarten ist, wird es vermutlich bei den mickrigen Zuwachsraten der Produktivität und des Lebensstandards bleiben, und daher natürlich auch bei realen Bondrenditen in der Nähe von Null. Erstmals seit Generationen können Eltern nicht mehr sicher sein, dass es ihren Kindern besser gehen wird als ihnen selbst.

Im Grunde sind sich die meisten Ökonomen und Politiker einig, dass der naheliegendste Ausweg aus dem Wachstumsdilemma großangelegte, schuldenfinanzierte staatliche Programme in den Bereichen Infrastruktur, Bildung und Unternehmensgründungen sind. Wenn der private Sektor blockiert ist, schlägt die Stunde des Staates. Noch nie konnte er sich zu so günstigen Konditionen wie heute das erforderliche Geld leihen. Der Juncker-Plan der EU kommt da zur rechten Zeit. Aber wie ernst ist es den Politikern damit?