Exklusiv aus dem Wirtschaftsdienst: In den entwickelten Volkswirtschaften ist das Produktivitätswachstum seit den 1970er Jahren tendenziell gesunken, zeigen die Statistiken – eine Beobachtung, die angesichts der weitreichenden Digitalisierung der Wirtschaft erstaunt. Sie könnte auf Messfehlern beruhen, ist sie aber realistisch, kann es dafür viele Gründe geben. Innovationen sind zunehmend kostenintensiv und durchdringen die Wirtschaft nur langsam. Der produktivitätsschwache Dienstleistungssektor nimmt einen größeren Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Produktion ein. Es könnte aber auch an der zu geringen Zunahme der Investitionen liegen. Letztlich muss diese Entwicklung nicht unbedingt einen langfristigen Trend widerspiegeln, sie kann auch konjunkturell bedingt sein. Weil ein Anstieg der Produktivität wirtschaftspolitisch aber für wünschenswert gehalten wird, stellt sich die Frage, was die Politik tun kann. Über diesen Themenkomplex diskutieren die Teilnehmer des Zeitgesprächs in der aktuellen Ausgabe des Wirtschaftsdienst.
Der wesentliche Indikator an dem sich die Debatte orientiert ist die Entwicklung der Arbeitsproduktivität, dem Verhältnis der erbrachten Wirtschaftsleistung zum Arbeitseinsatz. Sie hängt positiv vom technischen Fortschritt (wie z.B. Produkt- und Prozessinnovationen), der Sachkapitalausstattung und dem sog. Humankapital ab. Zu letzteren zählen u.a. Aus- und Fortbildung, aber auch die Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen.
Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung betrachtet in seinem Beitrag die relative Entwicklung der Beschäftigung zum Wirtschaftswachstum in Deutschland vor dem Hintergrund der Veränderungen, die der Arbeitsmarkt hierzulande in den letzten Jahrzehnten erfahren hat. Dabei ist es zu einer Entkopplung des Beschäftigungsaufbaus vom BIP-Zuwachs gekommen, die erklärt, „… wieso die Produktivität, die beide Maße verbindet, vergleichsweise schwach bleibt“. Weber sieht aber durchaus ein Potenzial für eine stärkere Produktivitätsentwicklung nicht zuletzt in der Digitalisierung der Wirtschaft, wenn diese durch einen Wechsel in der wirtschafts- und sozialpolitischen Debatte, der sich bereits abzeichnet, unterstützt wird – nicht einfach immer nur billiger, sondern mehr „… Investitionen in die Beschäftigten, die produktiv arbeiten sollen.“
Auch Christoph M. Schmidt, Vorsitzender des Sachverständigenrates für Wirtschaft (SVR) und Steffen Elstner, Mitarbeiter des wissenschaftliches Stabs des SVR, stellen fest, dass die Wachstumsbeiträge der Arbeitsproduktivität gesunken sind, während das Arbeitsvolumen zunahm. Verantwortlich dafür war, so die Autoren, vor allem die Integration von weniger produktiven Personen in den Arbeitsmarkt. Bedenklich finden sie, dass nicht nur im Dienstleistungsbereich, sondern auch im Verarbeitenden Gewerbe die Arbeitsproduktivität deutlich gesunken ist, was durch einen geringeren Kapitaleinsatz verursacht wurde. Was soll die Politik tun? Die Bereiche Digitalisierung, Energiewende und demografischer Wandel stehen dabei im Mittelpunkt. Hier müssen nach Auffassung der Autoren ungenutzte Potenziale gehoben und angemessene Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Tatsächlich lässt sich empirisch nachweisen, dass der Produktivitätsfortschritt auch global langsamer vorankommt. Ulrich Fritsche und Patrick Christian Harms von der Universität Hamburg untersuchen die Entwicklung der Arbeitsproduktivität in wichtigen OECD-Ländern. Deren Wachstumsrate nähert sich am aktuellen Rand der Null-Marke. (siehe Abbildung) Für den Rückgang der Produktivitätszuwächse als globales Phänomen verweisen die Autoren auf drei Erklärungsansätze. Zum ersten: Störungen im Zusammenspiel von innovationsfördernden Institutionen und der makroökonomischer Stabilisierungspolitik – gelingt die Stabilisierung der Wirtschaft nicht, fehlt die Basis für „erfolgreiches Produktivitätswachstum“. Zum zweiten: Stagnation aufgrund übermäßiger Verschuldung – auf einem Kreditboom folgt eine Phase des Schuldenabbaus, die eine „verhaltene Investitionstätigkeit und mangelnde Intermediationsleistung der Finanzinstitute“ mit sich bringt. Zum dritten: Die These der „Säkularen Stagnation“ – das Produktivitätswachstum sinkt langfristig! Hierfür werden unter anderem folgende Gründe genannt: ungleiche Einkommensverteilung, demografische Entwicklung, Anlageverhalten asiatischer Zentralbanken, Niedrigzinsen, schwache Investitionsnachfrage. Die Volkswirtschaft steckt in der Falle der Diminshed Expectations, wie es Paul Krugman genannt hat. Was hilft aus dieser Falle? Die Autoren sehen eine Lösung in steigenden staatlichen Investitionen und Maßnahmen für eine verbesserte Einkommensverteilung.
Marianne Saam vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung betrachtet in ihrem Beitrag die „Einflüsse von Innovation, Dienstleistungen und Digitalisierung“. Dabei diskutiert sie die folgenden fünf Gründe, die für die stagnierende Produktivitätsentwicklung in diesem Zusammenhang angeführt werden: „zunehmend kostenintensive Innovation, Sättigung von Bedürfnissen, langsame Diffusion von Innovation, zunehmende Bedeutung der Dienstleistungen in der gesamtwirtschaftlichen Produktion und Verlagerung des Produktivitätswachstums hin zu bisher ungemessenen Dimensionen“. Neben Hinweisen auf eine Verlangsamung der Diffusion von Innovationen in den vergangen Jahren seien bei den Dienstleistungen gerade die Bereiche stärker expandiert, die relativ geringe Produktivitätszuwächse aufweisen. Bezüglich der Vermutung, „dass die Produktivitätswirkungen der Digitalisierung mit den existierenden Methoden der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung deutlich unterschätzt werden“, verweist die Autorin auf jüngere Studien, die für die USA zu dem Ergebnis gekommen sind, „dass zumindest bisher keine großen ungemessenen Wachstumssteigerungen durch Digitalisierung stattgefunden haben.“
Mit dem Dienstleistungsbereich setzen sich auch Hagen Krämer von der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft und Jochen Hartwig von der TU Chemnitz auseinander. Sie beschäftigen sich dabei eingehend mit der These, dass die „rückläufige Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität […] vor allem auch ein statistisches Artefakt [ist]“, also auf einer Zunahme des Messfehlers bei der statistischen Erfassung von Dienstleistungen beruht. Verschiedene Studien, unter anderem die Langzeit-Studie von Robert Gordon, zeigen jedoch, dass sich diese These nicht stützen lässt. Wenn sich aber das Messproblem, das zweifellos den Dienstleistungssektor kennzeichnet, über die Zeit nicht vergrößert hat, wird die sinkende Arbeitsproduktivität in der Statistik realistisch dargestellt – und dies wird mit einem zunehmenden Anteil der Dienstleistungen an der Wertschöpfung auch fortdauern. „Denn solange es Wirtschaftsbereiche in relevanter Größenordnung gibt, in denen ein weitgehender Ersatz menschlicher Arbeitsleistung durch Mechanisierung und Technisierung nicht möglich ist, wird das Problem einer allgemeinen Abschwächung des Produktivitätswachstums prinzipiell bestehen bleiben.“ Eine Konsequenz daraus sei die Baumol’sche Kostenkrankheit, so dass sich für den Staat in Zukunft die Frage der Finanzierung öffentlicher Dienstleistungen verschärft stellen wird.
Lesen Sie hier exklusiv vorab ausführlich das aktuelle Zeitgespräch aus der Februar-Ausgabe des Wirtschaftsdienst:
Schwaches Produktivitätswachstum – zyklisches oder strukturelles Phänomen?, in: Wirtschaftsdienst 2/2017 (mit folgenden fünf Beiträgen: „Arbeitsmarkt, Digitalisierung, Reformen: zur aktuellen Produktivitätsentwicklung“ von Enzo Weber; „Die Verlangsamung des deutschen Produktivitätswachstums überwinden – Handlungsfelder für die Wirtschaftspolitik“ von Steffen Elstner und Christoph M. Schmidt; „Globale Abflachung des Produktivitätswachstums – Zeit für (koordinierte) expansive Fiskalpolitik“ von Ulrich Fritsche und Patrick Christian Harms; „Rückgang des Produktivitätswachstums – Einflüsse von Innovation, Dienstleistungen und Digitalisierung“ von Marianne Saam; „Zwischen Hoffnungsträger und Spielverderber: der Beitrag von Dienstleistungen zum Produktivitätswachstum“ von Jochen Hartwig und Hagen Krämer)