Im neuen World Economic Outlook des Internationalen Währungsfonds gibt es diesmal ein ausführliches, leider nicht leicht verständliches Kapitel über den rückläufigen Anteil der Löhne am Volkseinkommen sowie, spiegelbildlich, den steigenden Anteil der Einkommen aus Kapital. Das Phänomen beschränkt sich nicht nur auf Länder, die besonders arbeitgeberfreundlich sind – selbst Schweden ist betroffen, ebenso wie die Schwellenländer. Wichtigste Ursachen sind der technische Fortschritt und die immer intensivere internationale Arbeitsteilung.
Gegen diese Megatrends lässt sich zumindest kurzfristig nicht viel machen. Sie dürften die Lohnquoten tendenziell weiter drücken. Das ist verbunden mit einer Umverteilung zugunsten der höheren Einkommen und größeren Vermögen: Die Besitzer der Kapitalgüter befinden sich typischerweise auch an der Spitze der Einkommensskala. Insbesondere die Mitte der Arbeitnehmerschaft leidet unter diesen Tendenzen – dort wo routinemäßige Jobs durch Roboter ersetzt oder ins Ausland verlagert werden können, sinkt nicht nur die Beschäftigung, es lassen sich auch keine nennenswerten Lohnsteigerungen durchsetzen. Das führt zu sozialen Spannungen und bremst das Wirtschaftswachstum, schreibt der Internationale Währungsfonds. Nicht zuletzt ist das der Grund, weshalb Politiker, die auf Protektionismus setzen, in den vergangenen Jahren so erfolgreich waren.
Unterschiede in der Entwicklung der Lohnquote zwischen Ländern lassen sich auf zeitliche Differenzen in den Konjunkturzyklen zurückführen sowie darauf, wie stark ein Land in den internationalen Handel und Kapitalverkehr eingebunden ist. Im Vergleich zu den globalen Kräften, die am Werk sind und den langfristigen Trend bestimmen, handelt es sich aber laut IWF nur um nachgeordnete Faktoren. Trotz der strukturellen Probleme am Arbeitsmarkt, die sich im Rückgang der Lohnquoten niederschlagen, wird es durch den rapiden technischen Fortschritt und die Globalisierung von Produktion und Kapitalmärkten auch weiterhin zu einem robusten Wachstum der Weltwirtschaft und einer Konvergenz des Lebensstandards zwischen reichen und armen Ländern kommen. Unterm Strich bewirken die Megatrends etwas Positives.
Dass die Lohnquoten seit Jahrzehnten rückläufig sind, hat mit den rückläufigen relativen Preisen für Kapitalgüter zu tun. Der Output pro Maschine hat in der Vergangenheit rascher zugenommen als der Preis einer Maschine. Für Firmen lohnt es sich daher, Arbeit durch immer mehr Kapital zu ersetzen. Warum werden Maschinen billiger? Vermutlich durch Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnik sowie die Skaleneffekte durch internationalen Handel. Besonders Routinearbeiten werden zunehmend von Robotern übernommen, Arbeitseinsatz und Lohnquote gehen zurück.
Obwohl der internationale Handel seit einigen Jahren erstmals langsamer expandiert als das globale BIP, herrscht an den Weltmärkten nach wie vor ein mörderischer Wettbewerb. Inzwischen gibt es Containerschiffe, die mit einer Crew von nur 20 Philippinern bis zu 20.000 Einheiten um die halbe Welt transportieren können, sodass es von den Frachtkosten her vielfach fast irrelevant geworden ist, ob eine Ware in China oder Böblingen hergestellt wird. Ein deutscher Arbeiter steht daher in direktem Wettbewerb mit seinen chinesischen Kollegen und die Unternehmer verfügen zudem über eine totale Transparenz hinsichtlich der Lohnunterschiede. Wenn die Löhne hierzulande zu hoch sind, kann es schnell zu einer Verlagerung der Produktion nach Asien kommen. Das hat die Position der Gewerkschaften zunehmend geschwächt. Für sie ist es ein Teufelskreis: Weil die Unternehmen immer mit Outsourcing oder noch mehr Automatisierung drohen können, müssen sich ihre Mitglieder mit geringen Lohnerhöhungen zufriedengeben; weil aber die Löhne nur langsam steigen, sehen die Arbeiter nicht ein, dass sie Gewerkschaftsbeiträge zahlen sollen. Sie treten aus. Mit anderen Worten, auch die Gewerkschaften können das Sinken der Lohnquoten kaum verhindern.
Die Autoren des IWF-Berichts weisen auf einen weiteren Trend hin, der mit für die rückläufigen Lohnquoten verantwortlich sein könnte: der zunehmende Konzentrationsgrad innerhalb einzelner Wirtschaftszweige. Dadurch sind die Unternehmen in der Lage, ihre Gewinnmargen zulasten der Löhne zu erhöhen. Eine wirksame Wettbewerbspolitik ist daher im Interesse der Arbeitnehmer.
Insgesamt „war der Rückgang der Lohnquoten im Gefolge von Globalisierung und technischem Fortschritt bisher vor allem bei Arbeitern mit mittlerer Qualifikation besonders groß. … Es kam zu einer Zweiteilung des Arbeitsmarkts: Gewinner waren einerseits Berufe, die eine anspruchsvolle Qualifikation erfordern, andererseits die einfachen Jobs in den Dienstleistungen“ (vgl. WEO S. 125). Das führte also nicht nur dazu, dass sich die Verteilung der Einkommen zwischen Arbeit und Kapital verschiebt, sondern auch die Verteilung der Einkommen innerhalb der Arbeitnehmerschaft.
Die Frage ist, wie die Politik darauf reagieren sollte. Der IWF, ganz dem neoliberalen Denken verpflichtet, schlägt als wichtigste Maßnahme vor, mehr in die Ausbildung zu investieren und dafür zu sorgen, dass die Qualifikation der Arbeiter durch lebenslanges Lernen stets auf dem neuesten Stand ist. Hilfreich sei zudem, die Mobilität zu fördern und die Transparenz des Arbeitsmarkts zu verbessern. Das sind mikroökonomische Ansätze. Die Autoren geben immerhin zu, dass all das nicht ausreicht, wenn die Schocks ganze Regionen und/oder Berufe treffen: Der Staat sollte dann etwas für die Umverteilung zugunsten der Verlierer des Strukturwandels tun.
In unserem deutschen Modell ist der Rückgang der Lohnquote bisher kein Problem. Trotz rapiden technischen Fortschritts und einer immer stärkeren Exponierung gegenüber ausländischen Anbietern gelingt es immer noch, die Beschäftigung kräftig zu steigern und die Arbeitslosigkeit allmählich abzubauen. Das Erfolgsgeheimnis besteht vermutlich darin, dass Unternehmen und Betriebsräte/Gewerkschaften den Abbau von Routinejobs in der Regel nicht behindern und gemeinsam nach Alternativen suchen. Das gilt nicht zuletzt für mittelständische Firmen – viele von ihnen gehören in ihrer Branche zu den Weltmarktführern. Sie gehen offensiv mit strukturellen Herausforderungen um. Andere Erfolgsgaranten sind offenbar das duale Ausbildungssystem und das dichte Netz von technischen Hochschulen und Universitäten. Bevor ich zu euphorisch werde, will ich aber nicht vergessen, darauf hinzuweisen, dass es auch in Deutschland Gegenden gibt, wo sich hartnäckig eine hohe Arbeitslosigkeit hält, beispielsweise im Ruhrgebiet, in Bremen, in Sachsen-Anhalt und Meck-Pomm. Es ist auch hierzulande nicht selbstverständlich, dass technischer Fortschritt und Globalisierung überall als Chancen – und nicht als Probleme – für den Arbeitsmarkt wahrgenommen werden.
Das verblasst aber gegenüber den Herausforderungen, mit denen die Mittelmeerländer und unser Nachbar Frankreich zu kämpfen haben. Seit vielen Jahren liegt etwa die französische Quote der Jugendarbeitslosigkeit bei über 23 Prozent. Bei uns waren es zuletzt 6,6 Prozent. Kein Wunder, dass sich so viele Franzosen abgehängt fühlen und Le Pen und Mélenchon gewählt haben, die beide die Grenzen dichtmachen wollen. Der neue Präsident hat einiges zu tun, wenn er den Abstand zu Deutschland nachhaltig vermindern will.