Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Warum die Löhne nicht steigen

 

In den vergangenen Jahren haben wir so etwas wie ein Beschäftigungswunder erlebt, aber die Reallöhne haben darauf fast gar nicht reagiert. Es gibt genügend neue Jobs, aber von Lohninflation kann keine Rede sein. Was ist da los? Und wird das so weitergehen? Danach sieht es in der Tat aus, denn der Druck auf die deutschen Löhne dürfte durch die immer intensivere internationale Arbeitsteilung und die gewaltigen Niveauunterschiede mindestens noch zehn Jahre lang anhalten, jedenfalls solange die Grenzen offenbleiben und nicht deutlich mehr investiert wird – und solange für die Gewerkschaften Jobsicherheit wichtiger ist als höhere Löhne.

Ich habe mal ein bisschen herumgerechnet und dabei etwas getan, was ich mir normalerweise verbiete – ich habe Trends extrapoliert und dabei implizit und notgedrungen einige heroische Annahmen gemacht. Mit anderen Worten, was folgt ist eine ziemlich unseriöse Übung. Dennoch vermittelt sie einen Eindruck davon, wohin die Reise geht.

Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass das BIP je Beschäftigten im vergangenen Jahr hierzulande 5,7 mal so hoch war wie in China. Ähnlich groß dürfte der Abstand zwischen deutschen und chinesischen Löhnen gewesen sein. Wie die Grafik zeigt, holt China mit Riesenschritten auf, ist aber nach wie vor ein Niedriglohnland und damit von den Kosten her sehr wettbewerbsfähig.

Grafik: BIP je Erwerbstaetigen - China und Deutschland im Vergleich

Im Jahr 1999, dem ersten Jahr der Währungsunion, waren die deutschen Löhne noch 36,5 mal so hoch wie in China. Dass sich die Lücke so rasch schließt, hat vor allem mit der unterschiedlichen Investitionsdynamik zu tun. Während die chinesische Investitionsquote, der Anteil der Bruttoinvestitionen am nominalen BIP, zuletzt bei 44,8 Prozent lag, beträgt die deutsche seit Jahr und Tag etwa 19 Prozent. Wo viel investiert wird, nehmen Produktivität und Löhne in der Regel stark zu.

In den vergangenen zehn Jahren ist das chinesische BIP je Beschäftigten, nominal und zu marktmäßigen Wechselkursen, im Jahresdurchschnitt um nicht weniger als 15,9 Prozent gestiegen, das deutsche dagegen lediglich um 1,8 Prozent.

Wenn es so weitergeht – hier kommt die Trendextrapolation ins Spiel –, wenn es also so weitergeht, haben uns die Chinesen in 13 bis 14 Jahren bei den Löhnen eingeholt. Und wenn es dann noch weitergeht, wird aus Deutschland im Vergleich zu China ein Niedriglohnland, das für ausländische Direktinvestitionen und normale deutsche Investitionen wieder attraktiv ist. Die Gewerkschaften brauchen sich dann nicht mehr von der Drohung der Unternehmer beeindrucken zu lassen, dass die Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden, wenn ihre Lohnforderungen zu unverschämt sind. Vielleicht erleben wir erst dann auch wieder eine richtige Lohn-Preisspirale und ein nachhaltig steigendes Zinsniveau.

Am Ende, etwa im Jahr 2030, wird das chinesische BIP achtzehnmal größer sein als das deutsche und viermal größer als das amerikanische. Da heißt es sich warm anziehen und gute Beziehungen zum Reich der Mitte pflegen.

Was könnte sich anders entwickeln als hier unterstellt? Das größte Risiko besteht vermutlich darin, dass es zu Überinvestitionen in China und damit zu einem Crash der Aktienkurse und Immobilienpreise kommt, verbunden mit einer Finanzkrise, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, gefolgt von jahrzehntelangen Bemühungen von Haushalten und Unternehmen, ihre Bilanzen durch Schuldenabbau wieder ins Lot zu bekommen, also ihre Ausgaben einzuschränken. Bekanntlich ist das schon des Öfteren vorhergesagt worden, aber bisher ist es China immer wieder gelungen, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Vielleicht hilft es, dass wir es nicht mit einer echten Marktwirtschaft zu tun haben. Jetzt höre ich aber auf!