In Europa tut sich bei den Löhnen trotz der guten Konjunktur und des kräftigen Anstiegs der Beschäftigung nur wenig. Da Löhne der wichtigste Kostenfaktor sind, wird die Inflation auf absehbare Zeit nicht anspringen. Es dürfte daher bei der ultra-lockeren Geldpolitik bleiben.
Das wiederum stimuliert die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen weiter. Gleichzeitig ist die Finanzpolitik dabei, angesichts der niedrigen Haushaltsdefizite und, im Falle Deutschlands oder der Niederlande, großer Überschüsse, von restriktiv auf neutral oder sogar expansiv umzuschalten. Die Wirtschaft brummt, aber bei den Löhnen schlägt sich das kaum nieder.
Vom Wachstum des Sozialprodukts her könnten die Gewinnaussichten der Unternehmen nicht besser sein. Da außerdem das Risiko eines wirtschaftspolitischen Kurswechsels gering ist und die Bondmärkte nicht mehr attraktiv sind, eilen die Aktienindices weiterhin von Rekord zu Rekord. Die Bewertungskennziffern verlieren immer mehr ihre Bodenhaftung, so dass es sehr danach aussieht, dass sich eine neue Blase bildet. Ähnliches dürfte demnächst an den Immobilienmärkten geschehen.
Verkürzt gesagt könnte die mickrige Lohninflation für die nächste Finanzkrise verantwortlich sein.
Warum läuft es diesmal so viel anders als in früheren konjunkturellen Aufschwungphasen, warum springen die Löhne nicht an? Das Phänomen betrifft ja im Übrigen nicht nur den Euroraum, sondern alle entwickelten Volkswirtschaften – es ist ein globales Phänomen. Die Geldpolitiker in den Zentralbanken haben zunehmend den Eindruck, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit diesmal nicht zu einem nachhaltigen und gefährlichen Überschießen ihrer Inflationsziele führen wird und sie daher gelassen ihre lockere Politik beibehalten können.
Noch sind nämlich keine Anzeichen dafür auszumachen, dass sich die Inflation endlich beschleunigt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Volkswirte der EZB etwa erwarten für den Euroraum 2017 eine durchschnittliche Zunahme des harmonisierten Index der Verbraucherpreise von 1,5 Prozent, gefolgt von nur 1,2 Prozent im nächsten Jahr. Die sogenannte Kerninflationsrate liegt seit vier Jahren bei etwa ein Prozent und bewegt sich praktisch nicht, während die Lohnstückkosten, bei denen der Lohnanstieg um den Anstieg der Produktivität korrigiert wird, zuletzt ihren Vorjahresstand um gerade einmal 0,9 Prozent übertrafen und auf diese Weise entscheidend mit dazu beitragen, dass das Inflationsziel weiter verfehlt wird.
Wie die Bank für internationalen Zahlungsausgleich in ihrem letzten Jahresbericht schreibt (S. 77ff.), sind vor allem zwei strukturelle Gründe dafür verantwortlich, dass sich die Arbeitnehmer dauerhaft auf niedrige Lohnsteigerungen einstellen müssen, selbst wenn die üblichen Arbeitsmarktindikatoren – wie zur Zeit in den USA – so etwas wie Vollbeschäftigung signalisieren.
Zum Einen hat sich das globale Arbeitskräftepotenzial seit Anfang der 90er Jahre etwa verdoppelt, also seit dem Ende des Kommunismus und der Öffnung Chinas. Das war und ist verbunden mit einer immer intensiveren Integration der Beschäftigten in die internationalen Wertschöpfungsketten. Die Arbeitnehmer in den reichen Ländern stehen zunehmend im direkten Wettbewerb mit ihren viel schlechter bezahlten Kollegen im Rest der Welt.
Zum Anderen begrenzt die Automatisierung der Produktion (robotics) die Spielräume für höhere Löhne. Nachdem sich das lange vor allem in der Industrie bemerkbar machte, sind nun auch die Dienstleistungen betroffen. Stichworte sind Amazon, Uber, eBay, Airbnb, wo sich durch Fortschritte bei der Software und neue Informationstechnologien globale Anbieter etabliert haben, die viele der traditionellen Jobs obsolet gemacht haben – und weiter machen werden.
Wie das Schaubild zeigt, hat sich im Verlauf der vergangenen 40 Jahre die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer in den G7-Ländern stark verschlechtert. Es gibt bisher keine Anzeichen dafür, dass sich an den abgebildeten Trends etwas ändern könnte. Die pricing power von Arbeitern und Angestellten ist nachhaltig beschädigt worden.
Wenn eine Zentralbank wie die EZB daran interessiert ist, die Inflationsrate bei den Verbraucherpreisen dauerhaft auf knapp zwei Prozent zu steigern, müsste sie sich eigentlich dafür einsetzen, dass wieder mehr Leute in die Gewerkschaften eintreten und aggressiver für höhere Löhne gekämpft wird. Mario Draghi hat laut Bloomberg konzediert, dass der geringe Anstieg der nominalen Löhne der wichtigste Grund dafür ist, dass es keinen Inflationsdruck gibt; er sehe auch noch nicht, dass sich daran etwas ändern wird.
Ein kräftiger Lohnanstieg würden mehr für die Inflation bewirken als netto noch mehr Bonds von Regierungen und Unternehmen anzukaufen und die Leitzinsen bei Null zu halten. Es wäre der direkte Weg von den Löhnen zu den Verbraucherpreisen. Das ist nicht unbedingt ein Rezept für alle Länder der Währungsunion, aber durchaus für solche wie Deutschland, die Niederlande, Österreich und Finnland, wo Vollbeschäftigung de facto erreicht ist. Kandidaten für eine solche Strategie außerhalb der Währungsunion sind die USA, Japan, die asiatischen „Tigerstaaten“, die Schweiz, Schweden, Norwegen und Dänemark.
Eine weniger empfehlenswerte Alternative wären Handelsbarrieren, die zum Ziel hätten, Importe aus den Niedriglohnländern zu verringern – „weniger empfehlenswert“ deswegen, weil sich daraus ein Handelskrieg entwickeln könnte, der bekanntlich allen Beteiligten schaden würde.
Eine bewusst beschleunigte Lohninflation hätte mehrere erfreuliche Nebeneffekte:
- Sie würde die Unternehmen dazu zwingen, ihre Produktion effizienter zu machen. Die „säkulare Stagnation“ der Produktivität (in den OECD-Ländern), die vielfach als gottgegeben angesehen wird und die erklärt, warum es mit dem allgemeinen Wohlstand nicht mehr so richtig voran geht, hat vermutlich viel damit zu tun, dass die relativen Kosten der Arbeit so stark gesunken sind. Der Rationalisierungsdruck nimmt ab, wenn die Löhne nur langsam steigen.
- Eine höhere Lohninflation würde zudem der Tendenz nach dazu führen, dass die Einkommensverteilung wieder zugunsten des Faktors Arbeit verändert wird; hier hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine gesellschaftlich gefährliche Schieflage entwickelt. Schließlich würde ein Umsteuern in der Einkommenspolitik dazu beitragen, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage mehr als bisher vom privaten Verbrauch getrieben wird, statt von den Investitionen und den Exporten. Das würde den Aufschwung auf eine breitere Basis stellen. Die Investitionen der Unternehmen hängen letztlich mehr von den Absatzerwartungen als von noch so niedrigen Zinsen ab.
Ich warte allerdings noch auf den Tag, an dem die EZB tatsächlich für einen stärkeren Anstieg der Löhne im Euroraum plädiert. Dabei ist das so naheliegend.