Lesezeichen
‹ Alle Einträge

Italiens Wirtschaft muss wieder wachsen

 

Was soll die Aufregung über Italien? Die EU-Kommission, fast alle Medien und fast alle institutionellen Volkswirte sind sich einig, dass das Land dabei ist, eine verantwortungslose Finanzpolitik zu betreiben, nämlich 2019 ein staatliches Haushaltsdefizit von 2,4 Prozent des BIP zuzulassen – statt es, wie versprochen, auf 0,8 Prozent zu reduzieren. Angesichts einer gewaltigen Outputlücke und einer Arbeitslosenquote von fast zehn Prozent ist ein Defizit von 2,4 Prozent immer noch äußerst gering, um das einmal klarzustellen. Im Grunde setzt die neue Regierung damit die restriktive Finanzpolitik der vergangenen Jahre fort. Ob das den Parteichefs di Maio und Salvini klar ist?

Auch bei einem Defizit von 2,4 Prozent dämpft der Staat nach wie vor die Endnachfrage und nimmt hin, dass die Wirtschaft weiter nur sehr langsam expandieren kann. Die Marktteilnehmer haben offenbar noch nie von diesem Argument gehört. Für sie gilt die in ihrer Einfalt nicht zu toppende Faustformel „sinkendes Defizit gut, steigendes Defizit schlecht“. Sie trauen den Italienern nicht und trennen sich, soweit sie das können, von den Aktien und Anleihen des Landes: Seit Jahresanfang sind die Aktienkurse um 14 Prozent gesunken; auch die Kurse zehnjähriger Staatsanleihen sind stark gefallen, was deren Renditen von 2,0 Prozent auf 3,6 Prozent in die Höhe getrieben hat. Von den Kapitalmärkten gehen daher inzwischen zunehmend restriktive Effekte aus.

Grafik: Rendite 10-jähriger Staatsanleihen - Deutschland und Italien

Weil sie die Tragfähigkeit der Staatsschulden (132 Prozent des BIP) bezweifeln, malen viele Analysten die nächste Eurokrise an die Wand und tragen damit dazu bei, dass der Euro gegenüber dem Dollar ständig an Wert verliert, obwohl gesunde Fundamentaldaten eher für das Gegenteil sprechen. Für die Konjunktur Italiens und des Euroraums insgesamt sind das allerdings gute Nachrichten: Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der ausländischen Konkurrenz verbessert sich.

Es steht völlig außer Zweifel, dass Italien immer seine Schulden bedienen wird, auch wenn das Land, anders als etwa die USA oder Japan, die ähnlich hohe Schulden und Defizite haben, über keine Zentralbank verfügt, die mit dem Drucken von Geld beauftragt werden kann. Die Staatsschulden werden überwiegend von den eigenen Bürgern gehalten, nur 31 Prozent von Ausländern. Es handelt sich, wenn überhaupt, um ein inneritalienisches Problem.

Seit 2013 weist Italiens Leistungsbilanz steigende Überschüsse auf; das Land baut also seine geringen Nettoverbindlichkeiten gegenüber dem Ausland ab. Italien ist nicht Griechenland. Die nationale Sparquote von 20,3 Prozent ist geringer als die von Deutschland, Spanien und Frankreich (28,0, 23,0 und 22,9 Prozent), aber höher als die der USA oder die von Großbritannien (18,9 und 13,6 Prozent); im OECD-Vergleich liegt sie im Mittelfeld. Übrigens machten die Zinszahlungen auf die Staatsschulden zuletzt nur rund 3,5 Prozent des BIP aus, nach etwa fünf Prozent zehn Jahre zuvor. Weil die mittlere Restlaufzeit der italienischen Schulden 7,5 Jahre beträgt, wird selbst ein kräftiger Anstieg der Marktzinsen auf Jahre hinaus nichts daran ändern, dass der Schuldendienst eine Aufgabe ist, die verhältnismäßig leicht zu bewältigen ist.

Wie die beiden nächsten Grafiken zeigen, ist Italien durch ein langes Tal der Tränen gegangen und folgte damit dem Brüsseler Diktat. Allerdings waren die Vorgängerregierungen auch selbst davon überzeugt, dass sich die Wirtschaft durch Sparen – statt durch Wachstum – sanieren ließe. Dieses Rezept hat noch nie funktioniert, wie inzwischen selbst dem verbohrtesten Neoliberalen klar geworden sein dürfte. Der Anteil der Staatsausgaben am BIP ist von 57,6 Prozent im Jahr 1993 auf 48,9 Prozent im vergangenen Jahr zurückgefahren worden; in Deutschland betrug der Rückgang in diesem Zeitraum nur vier Prozentpunkte.

Hart hatte die Sparpolitik auch die Investitionen und damit das Wachstum des italienischen Produktionspotenzials getroffen. Bei den Investitionen lassen sich die Staatsausgaben am leichtesten zurückfahren, weil es keine gesetzlichen Verpflichtungen gibt.

Von 2007 bis 2017 ist das nominale BIP Italiens im Jahresdurchschnitt nicht zuletzt wegen der andauernden Austeritätspolitik nur um 0,6 Prozent gestiegen; real und pro Kopf ist es sogar um 0,9 Prozent (p.a.) gesunken. Der Vergleich mit den deutschen Zahlen fällt krass aus.

Grafik: reale Stundenverdienste in Deutschland und Italien seit 2000
Grafik: reales BIP pro Kopf der Bevölkerung in Deutschland und Italien seit 2000

Es hätte nicht so kommen müssen. Niemand kann sich aber darüber wundern, dass sich die italienischen Wähler am Ende für einen Politikwechsel entschieden haben. Kurzfristig sind höhere Staatsausgaben die Medizin, die ein Arzt verschreiben würde. Irgendjemand muss die Nachfrage wieder stimulieren. Wenn die Privaten das nicht wollen und streiken, ist der Staat gefordert. Vernünftig wäre für drei oder vier Jahre eine kräftige Ausweitung der Ausgaben unter Hinnahme höherer Defizite, am besten mit einem Fokus auf die Stimulierung des Potenzialwachstums. Im Augenblick wäre das in den Augen der europäischen Öffentlichkeit allerdings eine vollkommen verantwortungslose Politik. Lieber arm als noch mehr Schulden!

Die Defizite sind in der Währungsunion deshalb von Bedeutung, weil die potenziellen Gläubiger im Norden Angst vor ausgabefreudigen Trittbrettfahrern im Süden haben. Sie fürchten, für sie in der nächsten Zahlungskrise zulasten ihrer eigenen Steuerzahler zur Kasse gebeten zu werden. Ich frage mich allerdings, ob die Währungsunion nicht auch ohne – willkürlich festgelegte – fiskalische Regeln auskommen und sich stattdessen auf einige gemeinsame Steuern, Mindeststandards bei den übrigen (um einen Unterbietungswettbewerb zu verhindern), Eurobonds mit gegenseitiger Haftung, ein nicht zu kleines gemeinsames Budget und eine europäische Einlagensicherung einigen könnte.

Wie Marktbeobachtern aufgefallen sein dürfte, spielen staatliche Defizite und Schulden in der öffentlichen Diskussion der USA fast keine Rolle mehr, obwohl diese inzwischen auf etwa fünf Prozent des BIP gestiegen sind. Japan wiederum hat keine ernsten Probleme mit Staatsschulden in Höhe von 230 Prozent des BIP und jährlichen Defiziten von mehr als drei Prozent. Sowohl der US-Dollar als auch der Yen gelten heutzutage trotzdem als sichere Anlagehäfen.

Das größte Risiko Italiens sind die Banken. Deren Bilanzen sind nach wie vor überladen mit faulen Krediten und Staatspapieren. Wenn aus den faulen Krediten uneinbringbare Kredite werden und die Staatsanleihen durch den Renditeanstieg wertberichtigt werden müssen, kann sie das schnell in den Ruin treiben. Was dann? Ob sich die neuen Regeln, nach denen die Gläubiger der Banken die Verluste übernehmen müssen, durchsetzen lassen, darf nach den bisherigen Erfahrungen bezweifelt werden. Konkurse der Großbanken sind schwer vorstellbar. Am Ende wird es auf eine Umwandlung von Forderungen in Aktien sowie Teilverstaatlichungen hinauslaufen, vielleicht nach amerikanischem Modell.

Und Brüssel? Ich denke, es wird, was den Haushalt angeht, bei einer Ermahnung der italienischen Regierung bleiben, weil diese ihre Notlage plausibel erklären kann – und Besserung verspricht. Italien wird keine Bußgelder zahlen müssen. Gut so!

Und die EZB? Tendenziell strebt sie einen Kurswechsel an. Nur lässt sich das neuerdings nicht mehr so gut verkaufen, nachdem sich die konjunkturellen Frühindikatoren sichtbar abgeschwächt haben. Die Aktienmärkte könnten kollabieren, wenn tatsächlich im Verlauf des nächsten Jahres entschlossen auf die Bremse getreten wird. Und dann eben das Risikoland Italien. Mario Draghi wird bei der heutigen Pressekonferenz jedenfalls nicht verkünden, dass die Leitzinsen früher angehoben werden müssen als geplant.

Eins lässt sich sicher sagen: Die Rentenmärkte sind für mindestens ein Jahr durch die expansive Geldpolitik gut abgesichert. Die europäische Kerninflationsrate liegt übrigens im Vorjahresvergleich bei nur 0,9 Prozent. In diese Richtung wird sich die Inflationsrate auf der Basis des Harmonisierten Preisindex‘ bewegen, nicht in Richtung des Zielwerts von zwei Prozent. Es gibt für die EZB vorerst keinen Handlungszwang.