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Die nächste Rezession könnte vor der Tür stehen – viel zu früh für die EZB

 

Ich denke manchmal, dass die ständige Reduzierung der Wachstumsprognosen durch den Internationalen Währungsfonds, den Sachverständigenrat oder die OECD ein Frühindikator für die nächste Rezession sein könnte. Eine echte Rezession wird ja bekanntlich nur höchst selten, wenn überhaupt, von solchen Institutionen vorhergesagt. Die EU-Kommission erwartet für das reale BIP Eurolands Zuwachsraten von 1,9 Prozent im nächsten Jahr, und 1,7 Prozent im Jahr 2020. Das ist weniger als in den Vorjahren, sieht aber nicht nach einer Rezession aus. Das hat nicht viel zu bedeuten: Rezessionen werden immer erst im Nachhinein zugegeben.

Auch diesmal ist eine Rezession aber nur eine Frage der Zeit, nicht des „ob“. Was wären die Konsequenzen, wenn es tatsächlich demnächst dazu käme? In der jüngsten (203-seitigen) Konjunkturprognose der Europäischen Kommission findet sich (auf Seite 59) eine lange Liste von Risiken, die das Wachstum des realen BIP Eurolands mehr oder minder stark gefährden könnten, bis hin zu einer Rezession.

Schauen wir uns die Risiken an:

  • Vor allem befürchtet die Kommission offenbar, dass der amerikanische Wirtschaftsboom ein abruptes Ende finden könnte: Möglicherweise übertreibt es die Fed nämlich mit ihren Zinserhöhungen, und möglicherweise erzwingen die neuen Mehrheitsverhältnisse im Parlament bald eine restriktivere Finanzpolitik. Nach fast zehn Jahren Aufschwung und einer hohen Auslastung der Kapazitäten käme eine Rezession nicht überraschend.
  • Was, wenn wichtige Schwellenländer wegen des starken Dollars ins Schleudern geraten? Viele haben sich in den Jahren nach der Finanzkrise massiv und zu flexiblen Zinsen in Dollar verschuldet. Auf einmal haben sie es nun sowohl mit höheren Zinsen als auch mit einer Aufwertung des Dollar zu tun, so dass sie Probleme mit ihrem Schuldendienst bekommen. Für die Gläubiger, die europäischen und amerikanischen Banken, sind das schlechte Nachrichten.
  • Sollte der Handelskrieg weiter eskalieren, kann das unabsehbare – negative – Folgen für die internationalen Wertschöpfungsketten und die Allokation von Kapital und Arbeit haben. Größere strukturelle Verwerfungen kosten Wachstum und Jobs.
  • China! Das Land ist wegen der dürftigen Datenlage die große Unbekannte, dafür aber wegen seiner Größe umso gefährlicher für den Rest der Welt. Probleme sind die hohe Verschuldung des privaten Sektors und der Umstieg von einem export- und investitionsgetriebenen auf ein konsum- und dienstleistungsgetriebenes Wirtschaftsmodell. Die EU-Kommission erwartet aus diesen Gründen ein langsameres Wachstum, rechnet aber dennoch mit Zuwachsraten von rund sechs Prozent. Zweckoptimismus?
  • Italien könnte das neue Griechenland werden: Die Banken des Landes leiden unter der Last fauler Kredite und ihrem großen Bestand an italienischen Staatsanleihen, die stark an Wert verloren haben.
  • Der EU-Austritt Britanniens könnte für Euroland größere Strukturprobleme bedeuten – das Risiko wird bisher unterschätzt.

Ich sehe zwei weitere Risiken, die den realwirtschaftlich argumentierenden Ökonomen der Kommission nicht bewusst zu sein scheinen:

  • In den wichtigsten Industrieländern sind sowohl Aktien als auch Bonds überteuert. Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse von S&P 500, Nikkei 225 und EuroStoxx50 liegen bei 19,1, 15,5 und 15,0, die Kurs-Buchwert-Verhältnisse bei 3,3, 1,7 und 1,6, also über ihren historischen Durchschnittswerten. Zehnjährige amerikanische, japanische und deutsche Staatsanleihen wiederum rentieren mit 3,16 Prozent, 0,11 Prozent und 0,39 Prozent und damit deutlich unter dem, was allgemein als Gleichgewichtsrendite gilt: für die USA liegt diese bei 4,5 Prozent, für Japan bei zwei Prozent und für Deutschland bei vier Prozent. Mit anderen Worten, wenn es zu einer „Normalisierung“ kommt, bedeutet das sowohl für Aktien als auch für Bonds erhebliche Kursverluste.
  • Das ist deshalb ein großes Risiko, weil die Verschuldung der privaten Sektoren, gemessen in Relation zum nominalen BIP, sogar noch höher ist als 2007, vor Beginn der großen Finanzkrise. Wenn die Kurse der Aktien und/oder Bonds einbrechen, müssen Anleger, die ihre Bestände mit Krediten finanziert haben, forciert sparen, also ihre Ausgaben einschränken („Deleveraging“), was geradewegs in eine Rezession führen kann.

Grafik: globale Verschuldung in Prozent des BIP

Spielen wir also einmal durch, was passiert, wenn es demnächst tatsächlich zu einer Rezession kommt. Klar ist, dass die Inflationsraten dann erneut sinken werden. Die Kommission prognostiziert sowohl für das nächste als auch für das übernächste Jahr eine durchschnittliche Rate von 1,8 Prozent – das aber bei BIP-Zuwachsraten von 2,1 Prozent und 1,9 Prozent. Im Jahr 2009, der letzten großen Rezession, war die Inflationsrate auf 0,3 Prozent gefallen, nach 3,3 Prozent im Jahr zuvor. Diesmal könnte sie vielleicht auf ein Prozent zurückgehen – oder auf weniger. Der Frühindikator „Kerninflationsrate“ bewegt sich schon seit fünf Jahren auf diesem Niveau, so dass ein solcher Rückgang nicht utopisch wäre. Die Ölpreise sind seit Anfang Oktober um 20 Prozent gefallen, was ein Vorbote für niedrigere allgemeine Inflationsraten sein kann.

Für die EZB bedeutet das einen Abschied von ihren Plänen, die Zinsen nach dem Sommer 2019 anzuheben. Gleichzeitig wird es ihr schwerfallen, auf eine wirksame expansive Geldpolitik umzuschalten. Angesichts von aktuell negativen Einlagezinsen und einer stark aufgeblähten Notenbankbilanz hat sie kaum noch Spielraum. Ihr Instrumentenkasten ist de facto leer. Ich frage mich, ob wir am Ende wegen der paralysierten Geldpolitik japanische Verhältnisse bekommen, also dauerhaft Inflationsraten in der Spanne von -1% bis +1%, und ein entsprechend schwaches Trendwachstum des realen BIP. Da die Arbeitslosenquote Eurolands immer noch bei über acht Prozent liegt, sind das in jeder Hinsicht beunruhigende Aussichten.

Als eine Hilfe für die Konjunktur dürfte sich die wahrscheinliche weitere Abwertung des Euro gegenüber Dollar und Yen erweisen – der Faktor „steigende europäische Leitzinsen“ würde ja entfallen. Ob es dazu kommt, hängt natürlich davon ab, wie es mit der Konjunktur in den USA und Japan weitergeht. Da die beiden Länder ebenfalls von den meisten der oben aufgelisteten Risiken betroffen sein dürften, würde in einem „doomsday scenario“ auch bei ihnen die Nachfrage einbrechen, was tendenziell zu Abwertungen führt.

Wie in Japan wäre es dann an der Finanzpolitik, den europäischen Konjunkturkarren aus dem Dreck zu ziehen. Allein mehr Geld auszugeben, Steuern zu senken und mehr Schulden zu machen, ist zunächst alternativlos, genügt aber auf Dauer nicht. Die Struktur von staatlichen Ausgaben und Steuern muss gleichzeitig wachstumsfreundlich verändert werden. Die große Frage ist, wie das angesichts der politischen Gegebenheiten im Einzelnen aussehen kann. Jedenfalls kann sich die europäische Finanzpolitik nicht länger darauf beschränken, Defizite und Schulden abzubauen, wenn das Risiko ernst genommen wird, dass es demnächst zu einer Rezession kommt.