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Deutsche Wirtschaft: kurzfristig läuft’s, längerfristig angeblich nicht

 

Was die längerfristigen Prognosen des Internationalen Währungsfonds betrifft, kann ich immer nur staunen. Am 7. Juli gab es die neueste Version: Danach wird der deutsche Konjunkturaufschwung auf kurze Sicht weitergehen. Das reale BIP dürfte 2017 gegenüber 2016 um 1,8 Prozent expandieren, im Jahr danach um 1,6 Prozent, mit der Folge, dass die ohnehin schon positive (!) Outputlücke weiter zunimmt, wodurch dann endlich auch die Rate der Kerninflation steigt. Sie liegt, wie der IWF verwundert anmerkt, trotz der hohen und steigenden gesamtwirtschaftlichen Kapazitätsauslastung, rekordniedriger Arbeitslosigkeit und der vielen offenen Stellen stabil bei nur etwa ein Prozent – die Löhne reagieren bisher nicht wie gewohnt auf die günstige Situation am Arbeitsmarkt. Von 1999, als der Euro eingeführt wurde, bis heute sind die realen durchschnittlichen Tarifverdienste nur um jährlich 0,6 Prozent gestiegen!

Grafik: Entwicklung der realen Tarifverdienste  in Deutschland

Aber schon bald wird dem Aufschwung laut IWF die Luft ausgehen. Nach Zuwachsraten von 1,4 und 1,3 Prozent in den Jahren 2019 und 2020 pendelt sich die Wachstumsrate des realen BIP im nächsten Jahrzehnt bei 1,2 Prozent ein. 1,2 Prozent! Wieso das? Ein Grund seien die anziehenden Kosten für Energie, die das Wachstum des privaten Konsums abbremsen dürften, eine erstaunliche Aussage angesichts eines globalen und offenbar dauerhaften Überangebots an Erdöl und anderen fossilen Brennstoffen. Ich bin mir sicher, dass Energie ganz allgemein wegen der neuen, nicht-konventionellen Produktionsverfahren für Öl und Gas sowie der rapiden Effizienzfortschritte und des nicht weniger rapiden Verfalls der Preise für Strom aus Wind und Sonne auf Dauer nicht teurer, sondern billiger sein wird. Diese Begründung des IWF für die künftige Wachstumsschwäche steht jedenfalls auf sehr wackligen Füßen: Sollten die relativen Preise für Energie nämlich sinken, kommt das einem Konjunkturprogramm gleich, steigert also das BIP.

Warum sollen im Übrigen „die Risiken … in der längeren Frist vorwiegend negativ“ sein? Ich lerne, dass der unzureichende Reformprozess im Euroraum demnächst wieder Stress verursachen wird, was wiederum auf’s Wachstum schlägt. Außerdem habe Deutschland Probleme mit der Alterung seiner Gesellschaft und packe seine Strukturprobleme nicht energisch genug an.

Alles ziemlich an den Haaren herbeigezogen, finde ich! Natürlich gibt es in Deutschland Strukturprobleme, wie in jedem Land, und wenn sie gelöst würden, ginge es uns allen besser. Natürlich könnten sie energischer angepackt werden, aber in einer parlamentarischen Demokratie dauern die Entscheidungsprozesse wegen der vielen Interessen, die berücksichtigt sein wollen, eben ziemlich lange. Wieso der Druck?

Dass die Alterung der Gesellschaft ein Problem sein soll, ist angesichts ziemlich stabiler Zuwachsraten der Beschäftigung von jährlich mehr als ein Prozent nicht nachvollziehbar. Seit einiger Zeit nimmt die Anzahl der Jobs deutlich rascher zu als die der Rentner! Im Mai beispielsweise gab es im Vorjahresvergleich 2,3 Prozent mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigte, aber nur 0,4 Prozent mehr Rentenbezieher. Das mag sich ändern, aber aus heutiger Sicht ist der Zeitpunkt noch längst nicht erreicht, an dem ein Beschäftigter gefühlt zu viele Rentner ernähren muss. Es ist zudem sehr wahrscheinlich, dass sich die Lebensarbeitszeit weiter verlängern wird und der „normale“ Rentenbezug demnächst erst im Alter von 70 Jahren beginnt, oder noch später. Wenn außerdem die Einwanderung und die Integration von Flüchtlingen besser organisiert würden, ließe sich auch von dieser Seite das Arbeitsangebot erhöhen. Millionen von Ausländern wünschen sich nichts mehr, als in Deutschland arbeiten zu dürfen. Das lässt sich nutzen.

Auf längere Sicht ist es mit am wichtigsten, dass alle, die Arbeit suchen auch Arbeit finden und dass die berufliche Qualifikation der Erwerbstätigen und die Qualität der Produkte und Dienstleistungen hohen Ansprüchen genügen, vor allem im Vergleich zur internationalen Konkurrenz. Noch gibt es keine Indizien, dass hier etwas im Argen liegt: Die Arbeitslosenquote ist inzwischen auf 5,7 Prozent gefallen, nach der Definition der International Labor Organization (ILO) sogar auf 3,9 Prozent. Mit anderen Worten, es ist nicht allzu schwer, einen Job zu finden und auf diese Weise beruflich auf dem Laufenden zu bleiben. In vielen Ländern ist das nicht der Fall.

Vor allem gibt es in Deutschland nur ein vergleichsweise kleines Problem mit der Jugendarbeitslosigkeit: Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes lag die Quote im Juni bei 6,7 Prozent. In den anderen Ländern des Euroraums betrug sie dagegen im Durchschnitt etwa 23 Prozent (zum Vergleich: USA 10,4 Prozent, Großbritannien 12,2 Prozent). Von daher braucht man sich um die Zukunft unseres Landes keine Sorgen zu machen.

Sorgen bereitet allerdings das mickrige Wachstum der Produktivität. Hier haben wir es mit dem eigentlichen Strukturproblem zu tun. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist das reale BIP je Arbeitsstunde gerade einmal um 1,1 Prozent pro Jahr gestiegen und damit deutlich langsamer als in den Jahrzehnten zuvor. Seit dem letzten zyklischen Hochpunkt im ersten Quartal 2008 beträgt die Zuwachsrate im Durchschnitt sogar nur 0,6 Prozent, was bedeutet, dass das BIP-Wachstum neuerdings vorwiegend durch mehr Arbeit und weniger durch effizientere Arbeit generiert wird.

Grafik: Produktivitätswachstum in Deutschland seit 1997

Es handelt sich um kein spezifisch deutsches Problem. Was gelegentlich als secular stagnation bezeichnet wird, betrifft alle Industrieländer. Hauptursachen sind die immer intensivere internationale Arbeitsteilung und der steigende Anteil der Dienstleistungen an der Wertschöpfung. Bei letzteren ist es nicht so leicht wie in der Industrie oder im Bau, die Produktivität zu steigern. Und die inländischen Investitionen wollen trotz des günstigen Geschäftsklimas, des unterbewerteten Euro und der rekordniedrigen Zinsen vor allem deshalb einfach nicht Fahrt aufnehmen, weil es für die Unternehmen vielfach attraktiver ist, im Ausland, in der Nähe der Absatzmärkte zu investieren. Solange die Grenzen offen bleiben, wird sich an diesen Megatrends wenig ändern. Sie werden erst auslaufen, wenn die Schwellenländer ein ähnliches Einkommensniveau erreicht haben wie wir.

Trotzdem hat der IWF recht mit einigen seiner Vorschläge, wie sich das Wachstum der deutschen Wirtschaft nachhaltig beschleunigen ließe. Er plädiert für mehr Investitionen in die physische und digitale Infrastruktur, die Kinderbetreuung, eine bessere Integration der Flüchtlinge und eine geringere steuerliche Belastung des Produktionsfaktors Arbeit. An Mitteln für solche Projekte mangelt es angesichts der Überschüsse in den öffentlichen Haushalten wahrlich nicht, eigentlich nur am Willen. Es würde auch helfen, meint der IWF, wenn der Staat den Wettbewerb in den netzbasierten und professionellen Dienstleistungen stärker fördern würde, vor allem durch den Abbau von Zugangsbarrieren.

Da sich der IWF nicht um deutsche Tabus scheren muss, kann er unbefangen vorschlagen, dass die Regierung in ihrer Kommunikation auf stärker und nachhaltig steigende Löhne und Preise drängen sollte. Außerdem müsste mehr gegen das Armutsrisiko getan werden. Er hat dabei natürlich den Hintergedanken, dass sich dadurch die inländische Nachfrage stimulieren ließe, was wiederum zum Abbau des Überschusses in der Leistungsbilanz beitragen und so das Wachstum in den Partnerländern beschleunigen würde. Eine gute Idee!

Dass der IWF dennoch auf längere Sicht für Deutschland nur Zuwachsraten von 1,2 Prozent erwartet, zeigt, dass er nicht erwartet, dass seine guten Ratschläge an die Wirtschaftspolitiker tatsächlich umgesetzt werden.

Ich denke, dass Deutschland insgesamt im internationalen Vergleich nur geringe Strukturprobleme hat und auch ohne größere Reformen dauerhaft höhere Wachstumsraten erreichen kann, als der IWF erwartet. Zwei Faktoren haben dafür gesorgt, dass das reale BIP inzwischen mit einer Verlaufsrate von mehr als zwei Prozent expandieren dürfte: in erster Linie der schwache Euro, und zweitens das niedrige beziehungsweise negative Niveau der Realzinsen. Die beiden folgenden Grafiken vermitteln einen Eindruck davon, wie stark dadurch vermutlich die Nachfrage stimuliert wurde.

Grafik: realer Wechselkurs Deutschlands auf Basis der Lohnstückkocten
Grafik: kurze und lange Realzinsenin Deutschland

Das eigentliche Wachstumsrisiko besteht darin, dass sich der Euro zu rasch zu stark aufwertet und dadurch Wettbewerbsfähigkeit verloren geht. Von den Fundamentalfaktoren her ist das nicht unwahrscheinlich: Der Leistungsbilanzüberschuss des Euroraums liegt bei drei Prozent des nominalen BIP, das aggregierte Defizit in den öffentlichen Haushalten 2017 voraussichtlich bei nur 1,5 Prozent, und das Wirtschaftswachstum hat sich deutlich beschleunigt. All das unterscheidet sich positiv von der Situation in den USA.

Allerdings dürfte die EZB mit Blick auf die verbliebenen Krisenländer des Euroraums (Italien!) etwas gegen einen zu festen Euro haben und sich entsprechend Zeit lassen mit dem Anziehen der geldpolitischen Zügel. Wie eingangs erwähnt, liegt die Kerninflationsrate wie festgemauert bei nur ein Prozent und es gibt keine Anzeichen, dass die Inflation demnächst ihren Zielwert erreichen, geschweige denn aus dem Ruder laufen wird. Für mindestens ein weiteres Jahr wird die europäische Geldpolitik sehr expansiv bleiben. Ob sie wirklich erfolgreich gegenhalten kann, wenn der Wechselkurs des Euro ins Rollen kommt, ist nicht ausgemacht. Wie gesagt: Ich halte den Wechselkurs des Euro für das größte mittelfristige Risiko.

Nicht vergessen werden darf, was sich an den Börsen getan hat. Seit dem Krisenmärz des Jahres 2009, seit 8,3 Jahren, ist der Aktienindex DAX im Jahresdurchschnitt mit einer Rate von 14,6 Prozent gestiegen und damit viel rascher als das nominale BIP Deutschlands (3,4 Prozent!). Er ist in die Jahre gekommen. Das durchschnittliche gewogene Kurs/Gewinn-Verhältnis der 30 Aktien im Index liegt inzwischen bei 20,3, das Kurs/Buchwert-Verhältnis bei 1,8. Mit anderen Worten: Nach der langen Rallye haben die Kurse schwindelerregende Niveaus erreicht und betteln geradezu um eine größere Korrektur.

Gemessen an den Kennziffern für den EuroStoxx50 und den amerikanischen S&P 500-Index sieht es an den anderen wichtigen Märkten ähnlich aus. Sollte das Damoklesschwert demnächst herunter sausen, dürfte die nächste globale Finanzkrise ins Haus stehen. Es wird sich zeigen müssen, ob die Sicherungsmechanismen, mit denen das internationale Finanzsystem inzwischen stabilisiert worden ist, dem Druck durch einen Crash der Vermögenspreise standhalten können.

Wenn nicht, und wenn an den Devisenmärkten eine Rallye des Euro hinzukommen sollte, könnte der IWF am Ende doch mit seiner skeptischen Langzeitprognose für Deutschland recht behalten – allerdings: right for the wrong reasons! Nicht die Strukturprobleme wären schuld, sondern die Marktkräfte, die eine Korrektur der Fehlentwicklungen und Übertreibungen erzwingen.