Erinnert sich jemand, wann zuletzt IWF, OECD, EU-Kommission oder prominente Ökonomen vor zu hohen staatlichen Haushaltsdefiziten in einem der großen Industrieländer gewarnt haben? Es muss schon lange her sein. Irgendwie ist das kein Thema mehr.
Als vor ein paar Monaten der US Tax Cuts and Jobs Act die Hürden im Kongress genommen hatte und erste Berechnungen zeigten, dass dadurch – und durch zusätzliche Ausgabenpläne – das Budgetdefizit der Zentralregierung in diesem Jahr um 0,7 Prozent des BIP zunehmen würde, und 2019 um weitere 0,7 Prozent, auf dann fast sechs Prozent des BIP, kümmerte das niemanden. In der jüngsten Zwischenprognose der OECD, die gerade herauskam, wurden die positiven Wachstumseffekte und die Auswirkungen auf die Geldpolitik kommentiert, nicht aber die hohen Defizite als solche oder die Tatsache, dass die Staatsschulden auf 107 Prozent des BIP oder mehr steigen würden; im Jahr 2007, unmittelbar vor der Finanzkrise, waren es noch 64 Prozent. Anders als heute hatten die USA damals das Maastricht-Schuldenkriterium der europäischen Währungsunion fast erfüllt, wenn das jemals relevant gewesen wäre.
Für die Analysten der OECD wird die Steuerreform das Wachstum des realen amerikanischen BIP in diesem und im nächsten Jahr auf 2,9 und 2,8 Prozent beschleunigen, nachdem noch im Herbst Zuwachsraten von nur etwas mehr als zwei Prozent für wahrscheinlich gehalten worden waren. Herrscht nicht eigentlich bereits Vollbeschäftigung, wäre also nicht vielmehr eine restriktive Finanzpolitik angesagt? Niemand scheint zu befürchten, dass die Inflation außer Kontrolle geraten könnte, die Zinsen dadurch schneller steigen als bisher erwartet und dass am Ende der Schuldendienst den Spielraum für andere staatliche Ausgaben stark vermindern könnte.
Da die Kerninflationsrate seit etwa neun Monaten bei suboptimalen 1,5 Prozent festhängt, sind höhere Inflationsraten sogar erwünscht. Das mit dem Budgetdefizit sei ein Thema für später, wenn überhaupt. Schließlich lauten die Schulden ja immer noch auf Dollar, und die werden bekanntlich in Washington gedruckt. Wie es so schön heißt: „The dollar is our currency – but your problem!“
Es gab eine Zeit, da war eine „unsolide“ Finanzpolitik ein Grund, die betroffene Währung zu verkaufen. In der jetzigen Situation wird andersherum gedacht: Das beschleunigte Wirtschaftswachstum macht es für die Fed leichter, ihre Politik zu normalisieren, also die Leitzinsen rascher anzuheben als ursprünglich geplant, wodurch sich der Zinsabstand gegenüber dem Rest der Welt vergrößert, was wiederum zu einem festeren Dollarkurs führt. Nun ja, das mag so sein, oder auch nicht. Um amerikanische Gesprächspartner zu ärgern, weise ich manchmal auf den Zinsunterschied von 1,9 Prozentpunkten bei den Zehnjährigen (Swaps) hin: Danach erwarten die Marktteilnehmer, dass sich der Euro in den nächsten zehn Jahren auf 1,48 Dollar aufwertet. Hohe Zinsen sind ein Wesensmerkmal schwacher Währungen, füge ich dann gern hinzu.
Insgesamt hat die Trump-Regierung ein ausgewachsenes keynesianisches Konjunkturprogramm auf den Weg gebracht. Und wie es in solchen Fällen oft ist: Durch den Nachfrageschub verbessert sich auch Einiges auf der Angebotsseite. So rechnet die OECD damit, dass die Investitionen „relativ rasch zunehmen werden, ausgelöst durch den Rückgang der Kapitalkosten um rund zehn Prozent sowie in Erwartung eines steigenden Outputs.“ Der Wachstumspfad des Produktionspotenzials wird steiler. Andere Effekte seien eine Zunahme der Einfuhren, zusätzliche Engpässe auf dem Arbeitsmarkt und, im Vergleich zu früheren Vorhersagen, um ein Prozent höhere Reallöhne im Jahr 2019. Hat noch jemand Wünsche?
Das alles funktioniert nur, weil die Inflation so niedrig ist. Und warum ist sie so niedrig? Weil die Kapazitäten doch noch nicht so stark ausgelastet sind, wie seit Jahren berechnet, weil es den Produktivitätsschock durch die Finanzkrise eben doch nicht gegeben hat und das Potenzial nach wie vor vermutlich mit Raten um 2,5 Prozent expandiert, statt mit 1,5 Prozent. Die Outputlücke wäre dann immer noch vorhanden. Dito am Arbeitsmarkt: Zwar ist die Arbeitslosenquote auf 4,1 Prozent gefallen, die weiter gefasste Unterbeschäftigungsquote liegt aber noch bei 8,2 Prozent, während die Erwerbsquote seit vier Jahren um den rekordniedrigen Wert von 63 Prozent pendelt (verglichen mit über 66 Prozent vor der Krise). Es gibt also noch beträchtliche Reserven, so dass es weiterhin nicht leicht fällt, Löhne und Preise zu erhöhen. Selbst die Abwertung des Dollar im vergangenen Jahr hat daran wenig geändert – sie müsste weitergehen, damit es zu sichtbaren Effekten auf die US-Inflation kommt.
Im Euroraum ist die Outputlücke zweifellos sogar größer als in den USA. Trotz des Anstiegs der Beschäftigung von zuletzt rund 1,5 Prozent steckt der Arbeitsmarkt gemessen an der Unterbeschäftigungsquote von 17 Prozent und der anhaltend niedrigen Erwerbsbeteiligung immer noch in der Krise. Durch die Aufwertung des Euro hat sich der Spielraum für kräftigere Lohnerhöhungen zusätzlich vermindert. Was die Auslastung der gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten angeht, setzt die OECD das Potenzialwachstum (des realen BIP) für 2017 bei knapp über ein Prozent an, während es vor der Krise mehr als zwei Prozent waren. Sollte es auch in Europa durch die Finanzkrise zu einem weniger schwerwiegenden Strukturbruch gekommen sein als offiziell vermutet, haben wir es trotz der erfreulichen Wachstumsdynamik der vergangenen zwei Jahre nach wie vor mit einer gähnend großen Outputlücke zu tun, die auf Jahre hinaus verhindern wird, dass sich eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzt.
Da kommt der Kurswechsel in der Berliner Finanzpolitik zur rechten Zeit. Die OECD vermerkt ihn mit großer Genugtuung, wie natürlich alle unsere Nachbarländer – und ganz sicher auch die EZB. Selten war eine expansive Ausgaben- und Steuerpolitik weniger mit negativen Nebeneffekten verbunden als das, was sich seit der Unterschrift unter den Koalitionsvertrag abzeichnet. Warum nicht die Konjunktur mal ein paar Jahre lang laufen lassen und den Menschen den Eindruck vermitteln, dass Wachstum und neue Jobs Priorität haben, und nicht ein noch größerer Überschuss im Staatshaushalt?