Im Fernsehduell um die deutsche Kanzlerschaft wollte Frank Plasberg von den beiden Kandidaten wissen, welche Note sie Deutschland in Sachen sozialer Gerechtigkeit geben würden. Die Kanzlerin wollte sich nicht festlegen – wie es so ihre Art ist. Herr Steinmeier ließ sich aber nicht lange bitten und meinte, Deutschland verdiene in Sachen sozialer Gerechtigkeit die Note zwei oder besser. Nur würde die dumme Wirtschaftskrise das Land jetzt zurückwerfen und vielleicht auf die Note drei drücken.
Klar, wenn man soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Fortschritt allein am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) abliest, wäre des Kanzlerkandidaten Benotung vielleicht zutreffend. Nur muss das BIP nicht unbedingt ein guter Indikator für soziale Gerechtigkeit und noch nicht mal für wirtschaftlichen Fortschritt sein.
Messen Länder und ihre Regierungen ihre Leistung vor allem am BIP, messen sie wahrscheinlich am Wesentlichen vorbei: etwa an der Verteilung des Wohlstands, an den sozialen und ökologischen Folgen des Wirtschaftens und damit ganz wesentlich an der Lebensqualität ihrer Bevölkerung. Aber erst wenn man etwas über den Zustand dieser Dinge in der Gesellschaft weiß – also die richtige Statistik hat – können Regierungen gezielt an Wichtigerem als der Steigerung des BIP arbeiten.
Das sieht auch der französische Präsident Nicolas Sarkozy so. Deswegen hat er vor einem Jahr eine Expertenkommission mit fünf Nobelpreisträgern einberufen, die in Zusammenarbeit mit der OECD, der UN und dem französischen Statistikamt INSEE aufschreiben sollte, wie man den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt messen könnte. Letzte Woche haben die beiden Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen sowie der französische Wirtschaftsprofessor Jean-Paul Fitoussi der Öffentlichkeit den 300 Seiten starken Bericht vorgelegt.
Den Stein der Weisen in Form eines allumfassenden Indikators, der als Richtschur für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt dienen kann, hat die Kommission nicht gefunden. Aber die Autoren haben zum ersten Mal systematisch aufgeschrieben, welche Daten wie erhoben werden müssten, damit eine Gesellschaft nicht nur ihre Produktion, sondern auch die Lebensqualität ihrer Mitglieder einschätzen kann. Dabei ging es um drei Punkte: Wie kann man die herkömmliche volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, die der Errechnung des BIP zugrunde liegt, verbessern? Wie kann man Lebensqualität messen? Und wie kann man messen, ob nachhaltig gewirtschaftet wird?
Das statistisch gemessene Wachstum der Summe aller Waren und Dienstleistungen, die in einem Jahr produziert werden – das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts – gibt nur bedingt darüber Aufschluss, ob es den Menschen besser geht, schreiben die Ökonomen – und ob sie ihren Wohlstand auch langfristig halten können.
Eines der Probleme mit dem BIP ist, dass es die Veränderung des Kapitalstocks nur unzureichend wiederspiegelt. Es wird zwar mit den Bruttoinvestitionen und den Abschreibungen das Kapital in Form von Maschinen erfasst, andere wichtige Bestände wie die natürlichen Ressourcen oder die Qualifikation der Menschen bleiben aber unberücksichtigt. Deren Veränderung müsste man aber kennen, um sich ein Bild von der Nachhaltigkeit der Produktion und damit von den Chancen und Lebensbedingungen zukünftiger Generationen machen zu können.
Aber die Messung dieser Bestände ist schwierig. Während der Maschinenbestand noch relativ gut zu erfassen ist, weil es für Maschinen Marktpreise gibt, die man zur Bewertung heranziehen kann, ist das zum Beispiel bei Naturressourcen viel schwieriger. Wie kann man etwa Biodiversität oder das arktische Packeis und deren Verfall bewerten? Obwohl es schon verschieden Indikatoren, etwa der Weltbank, dazu gibt, sehen die Ökonomen nach ihrer umfassenden Bestandsaufnahme noch einigen Forschungsbedarf.
Nicht nur die zukünftige Lebensqualität durch eine intakte Umwelt liegt den Forschern am Herzen, sondern auch der heutige soziale und wirtschaftliche Wohlstand. Wenn sie sich mit der klassischen volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung beschäftigen, schlagen sie vor, sich mehr auf Konsum und Einkommen zu konzentrieren als auf das Bruttoinlandsprodukt. Diese Größen gäben nämlich eher das Wohlbefinden der Menschen wider als die Produktion des Landes.
BIP und verfügbares Einkommen müssen nicht unbedingt im Gleichschritt miteinander wachsen, wie die Fälle Irland und Deutschland zeigen. In beiden Ländern ist das BIP stärker als das verfügbare Einkommen (also das Einkommen aus Arbeit und Kapital sowie Sozialtransfers) gestiegen. Bei Irland liegt das daran, dass internationale Investoren, die von den geringen irischen Steuern angezogen wurden, einen Großteil ihrer Profite aus dem Land wieder abgezogen haben. Für die Iren blieb dann immer weniger übrig.
In Deutschland hat das verfügbare Einkommen besonders deswegen nicht mit dem Wachstum des BIP mitgehalten, weil die Löhne stagniert sind. Dadurch haben sich zwar die Exporte verbilligt, die Arbeiter konnten sich aber immer weniger importiere Waren leisten – die terms of trade Deutschlands haben sich verschlechtert. Wie in Irland, so in Deutschland: Viel Arbeit, wenig Lohn – welche Note gibt es jetzt für die soziale Gerechtigkeit, Herr Steinmeier?
Die Kommission hat auch Probleme bei der herkömmlichen Berechnung der verfügbaren Einkommen festgestellt. So monieren die Wissenschaftler, dass öffentliche Leistungen, die günstig oder sogar kostenlos sind – wie etwa öffentliche Krankenhäuser oder Schulen und Universitäten – das gemessene verfügbare Einkommen reduzieren können.
Warum das? Wie für direkte Geldtransfers, so muss der Staat auch für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen Steuern und Abgaben erheben. Wenn nur Geld umverteilt wird, bleibt das verfügbare Einkommen in einem Land gleich: den einen werden Steuern und Abgaben abgezogen, die den anderen als Transfers ausgezahlt werden.
Weil aber beispielsweise die Dienstleistungen öffentlicher Schulen den Haushalten nicht als Geld- sondern als Sachleistungen zufließen, tauchen sie nicht als zusätzliches Einkommen der Menschen in den Statistiken auf – die zur Finanzierung notwendigen Steuern werden aber vom Einkommen abgezogen – das ausgewiesene verfügbare Einkommen ist also niedriger als es tatsächlich der Fall ist. Deswegen – so die Kommission – müsste man die nicht-monetären öffentlichen Leistungen bewerten und als Einkommen in der Statistik berücksichtigen.
Beim Konsum als einem Maß der Lebensqualität verhält es sich ähnlich wie beim Einkommen. Wichtige Aspekte, die das Wohlbefinden der Menschen berühren, werden, nach Meinung der Kommission, bei der traditionellen statistischen Berechnung unzureichend erfasst. Etwa die Leistungen des Gesundheitssystems: Ist das Gesundheitssystem eines Landes größtenteils privat organisiert, gehen die Ausgaben für den Arzt und das Krankenhaus als Dienstleistungen in die Berechnung des Konsums ein. Je teurer Untersuchungen und Krankenhausaufenthalte dann werden, desto höher wäre auch der Konsum. Wenn aber der Staat das Gesundheitssystem betreibt und die Leistungen zu geringen Preisen oder sogar umsonst anbietet, steigt der Konsum in der Statistik nicht.
Ein weiteres Problem, auf das die Forscher hinweisen, betrifft die Erfassung der Qualität der Leistungen. So seien die Gesundheitsausgaben in den USA zwar explodiert, und haben beträchtlich zum Anstieg der Konsumausgaben beigetragen, die gesundheitliche Versorgung der Amerikaner hat sich dabei aber nicht verbessert. Die Frage der Qualitätsmessung stellt sich auch in anderen Bereichen, zum Beispiel der Bildung, und auch dort unabhängig davon, ob die Leistungen staatlich oder privat erbracht werden.
Darüber hinaus schlägt die Kommission vor, Ausgaben für das Pendeln zum Arbeitsplatz nicht länger dem Konsum zu zurechnen, weil diese Ausgaben nicht wirklich die Lebensqualität erhöhen. Auf der anderen Seite müssten Dienstleistungen, die nicht bezahlt werden – wie etwa die Erziehung von Kindern oder Arbeit im Haushalt – mit einbezogen werden. Auch Freizeit als Ausdruck einer erhöhten Lebensqualität müsste Eingang in einen neuen Konsumindikator finden.
Bei der Verbesserung der Messung des individuellem Konsums und Einkommens bleibt die Kommission aber nicht stehen. Weil sie sozialen Fortschritt messen will, fragt sie auch nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt: Sind die Einkommen und der Reichtum krass ungleich verteilt? Wie viele soziale Bindungen haben die Menschen in einer Gesellschaft – in Vereinen, in der Familie oder in Parteien? Wie bringen sie sich in ihre Gemeinschaft und in die Demokratie ein?
Und sie fragt auch nach dem Wohlbefinden der Menschen jenseits des Materiellen: Wie hoch ist die körperliche und ökonomische Sicherheit in einem Land? Angst vor Gewalt, aber auch zunehmend unsichere Arbeitsverhältnisse und eine geringere Kompensation von Einkommen bei Arbeitslosigkeit erhöhen kaum die Lebensqualität, selbst wenn immer weniger Menschen arbeitslos sind. Das könnte ein Grund sein, warum nicht alle Deutschen Frank-Walter Steinmeiers Einschätzung in Sachen sozialer Gerechtigkeit teilen.
Viele Größen, mit denen der wirtschaftliche und soziale Fortschritt erfasst werden soll, werden bereits gemessen. Die Aufgabe der Kommission lag darin, diese Messungen zusammenzutragen und genauer Probleme und Chancen der Indikatoren zu bewerten. Die Empfehlungen der Kommission machen deutlich, dass es noch einiges zu tun gibt, um konzeptionelle Probleme und Probleme bei der Messung vieler relevanter Größen zu lösen.
Allein steht die Kommission dabei nicht: So betreibt die OECD ein Projekt zur Messung des gesellschaftlichen Fortschritts. Und die Statistiker Neu-Seelands haben 2008 einen Bericht vorgelegt, in dem sie die Nachhaltigkeit der Entwicklung der letzten 20 Jahre erfasst haben.
Man kann also hoffen, dass die Messung des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts von immer mehr statistischen Ämtern verbessert und auch offiziell betrieben wird – die Gesellschaft und die Regierungen hätte einen besseren Kompass für die Ziele und den Erfolg ihre Politik.